Die einleitenden Ermittlungen bestanden darin, dass die Streifenwagen kreuz und quer durch die Ortschaft fuhren, während der Kommissar die Leute im Altersheim vernahm. Der Stadtrat hingegen war nach Hause nach Flen gefahren und hatte alle Telefone abgestellt. Es konnte der Karriere kaum zuträglich sein, wenn man mit dem Verschwinden eines undankbaren Alten in Verbindung gebracht wurde, dachte er.
Vereinzelte Hinweise trafen ein: Der eine hatte Allan mit dem Fahrrad durch Katrineholm fahren sehen, der Nächste behauptete, der Alte sei in einer Apotheke in Nyköping in der Schlange gestanden und habe sich sehr unhöflich aufgeführt. Doch diese und ähnliche Beobachtungen konnten aus unterschiedlichen Gründen sofort ausgeschlossen werden. So ist es zum Beispiel unmöglich, in Katrineholm gesichtet zu werden, wenn man nachweislich zur selben Zeit im Heim in Malmköping zu Mittag gegessen hat.
Der Polizeipräsident organisierte Suchtrupps mit einer Hundertschaft Freiwilliger aus der unmittelbaren Umgebung und war aufrichtig erstaunt, als die Suche ergebnislos verlief. Trotz der Zeugenaussagen, die dem Alten bemerkenswerte Rüstigkeit bescheinigten, war er nämlich bis zu diesem Moment ganz sicher gewesen, dass sich hier, wie so oft, einfach nur ein dementer Alter verirrt hatte.
Die einleitenden Ermittlungen verliefen also im Sande, bis abends um halb acht der aus Eskilstuna angeforderte Polizeihund eintraf. Das Tier schnüffelte kurz an Allans Sessel und an den Fußspuren im zertrampelten Stiefmütterchenbeet vor dem Fenster, bevor es Richtung Park loslief, über die Straße, rund um die mittelalterliche Kirche, über die niedrige Steinmauer und dann immer weiter, bis es schließlich vor dem Wartesaal des Reisezentrums Malmköping stehen blieb.
Die Tür zum Wartesaal war abgeschlossen. Von einem Mitarbeiter der Sörmländer Verkehrsgesellschaft in Flen erfuhr die Polizei, dass das Reisezentrum werktags um 19.30 Uhr seine Pforten schloss. Aber wenn die Polizei absolut nicht bis zum nächsten Tag warten könne, so der Schalterbeamte in Flen, dann könne man dem Kollegen aus Malmköping sicherlich einen Hausbesuch abstatten. Der Mann heiße Ronny Hulth und stehe bestimmt im Telefonbuch.
Während der Polizeipräsident vor dem Altersheim in die Kameras schaute und verkündete, dass man auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen sei, um auch abends und nachts die Suche fortsetzen zu können – denn der Hundertjährige sei dünn gekleidet und höchstwahrscheinlich verwirrt –, fuhr Kriminalkommissar Göran Aronsson zu Ronny Hulth und klingelte. Der Hund hatte ja ganz deutlich angezeigt, dass der Alte in den Wartesaal des Reisezentrums gegangen war, und der Schalterbeamte Hulth konnte sicher Auskunft geben, ob der Mann Malmköping am Ende mit dem Bus verlassen hatte.
Doch Ronny Hulth ging nicht an die Tür. Er saß bei heruntergelassenen Jalousien im Schlafzimmer und umklammerte angstvoll seine Katze.
»Geh weg«, flüsterte Ronny Hulth Richtung Wohnungstür. »Geh weg! Geh! «
Was der Kriminalkommissar am Ende auch tat. Zum einen glaubte er nämlich, was auch sein Chef zu wissen meinte, dass der Alte irgendwo in der Umgebung umherirrte, zum anderen fand er, dass der Mann nicht unmittelbar in Gefahr schwebte, wenn er sich wirklich in einen Bus gesetzt haben sollte. Dieser Ronny Hulth war wohl gerade bei seinem Schatzi, also würde er ihn gleich am nächsten Morgen einfach am Arbeitsplatz aufsuchen. Falls der alte Mann bis dahin nicht schon wieder aufgetaucht war.
* * * *
Um 21.02 Uhr nahm die Notrufzentrale der Landespolizei in Eskilstuna folgenden Anruf entgegen:
Ja, hallo, mein Name ist Bertil Karlgren, und ich rufe an, weil … also, ich rufe an wegen meiner Frau … das heißt … also, meine Frau, Gerda Karlgren, war ein paar Tage in Flen und hat da unsere Tochter und den Schwiegersohn besucht. Da kommt jetzt bald was Kleines und … na ja, da gibt’s ja immer ’ne Menge zu tun. Jedenfalls wollte sie, also Gerda, Gerda wollte dann heute wieder nach Hause fahren und hat den Bus am frühen Nachmittag genommen, also, heute Nachmittag war das. Der Bus fährt ja über Malmköping, und wir wohnen hier in Strängnäs … Na ja, wahrscheinlich hat das alles überhaupt nichts zu sagen, findet jedenfalls meine Frau, aber wir haben vorhin im Radio von diesem verschwundenen Hundertjährigen gehört. Vielleicht haben Sie ihn ja sowieso schon gefunden? Nicht? Na ja, also meine Frau sagt, da ist in Malmköping so ein uralter Mann zugestiegen, der hatte einen großen Koffer dabei, als wollte er eine ganze Weile verreisen. Meine Frau saß ganz hinten, und der Alte saß ganz vorne, deswegen konnte sie ihn nicht so gut sehen und auch nicht hören, was der Alte und der Fahrer geredet haben. Was sagst du, Gerda? Ja, also, Gerda sagt gerade, sie ist nicht so eine, die lauscht, wenn sich andere Leute unterhalten … Aber das Komische daran war auf jeden Fall, dass … ja, also … na ja, der Alte ist mit seinem Riesenkoffer schon auf halber Strecke ausgestiegen, er ist bloß ein paar Kilometer mitgefahren. Und er sah richtig alt aus, wirklich. Nein, wie die Haltestelle hieß, weiß Gerda nicht mehr, das war so quasi mitten im Wald … irgendwo auf halber Strecke eben. Also, zwischen Malmköping und Strängnäs .
Der Anruf wurde aufgezeichnet, transkribiert und in das Hotel gefaxt, in dem der Kriminalkommissar während seines Außeneinsatzes in Malmköping untergebracht war.
6. KAPITEL Montag, 2. Mai–Dienstag, 3. Mai 2005
Der Koffer war bis an den Rand mit Geldbündeln aus lauter Fünfhundertkronenscheinen gefüllt. Julius überschlug die Summe kurz im Kopf. Zehn Reihen waagrecht, fünf senkrecht. In jedem Stapel fünfzehn Bündel zu jeweils bestimmt fünfzigtausend …
»Siebenunddreißigeinhalb Millionen, wenn ich richtig gerechnet habe«, sagte Julius.
»Na, das nenne ich mal einen Haufen Geld«, meinte Allan.
»Lasst mich raus, ihr Schweine!«, brüllte der junge Mann im Kühlraum.
Er veranstaltete einen Riesenkrach, schrie und trat gegen die Tür. Angesichts dieser Wendung der Ereignisse mussten sich Allan und Julius erst mal sammeln, aber das ging einfach nicht bei diesem Lärm. Schließlich beschloss Allan, dass der junge Mann vielleicht mal eine Abkühlung brauchte, also stellte er den Kühlgenerator an.
Es dauerte nicht lange, da merkte der junge Mann, dass sich seine Situation verschlechtert hatte. Er verstummte und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Klare Gedanken lagen dem jungen Mann sowieso nicht unbedingt, und im Moment hatte er obendrein noch rasende Kopfschmerzen.
Nach minutenlangem Grübeln kam er immerhin zu dem Schluss, dass er sich weder durch Drohungen noch durch Tritte aus seiner misslichen Lage befreien konnte. Blieb also nur die Möglichkeit, um Hilfe von außen zu bitten. Blieb also nur die Möglichkeit, den Chef anzurufen . Der Gedanke war grauenvoll. Aber wie es aussah, konnte die Alternative noch um einiges schlimmer aussehen.
Der junge Mann zögerte noch eine Weile, doch die Kälte setzte ihm von Minute zu Minute mehr zu. Schließlich zog er sein Handy aus der Tasche.
Kein Netz.
* * * *
Der Abend ging in die Nacht über, die Nacht in den Morgen. Als Allan die Augen aufschlug, wusste er nicht, wo er war. War er nun also doch im Schlaf gestorben?
Eine muntere Männerstimme wünschte ihm einen guten Morgen und teilte ihm mit, dass es zwei Neuigkeiten zu vermelden gab, eine gute und eine schlechte. Welche wolle Allan zuerst hören?
Zuerst wollte Allan eigentlich bloß wissen, wo er war und warum. Die Knie taten ihm weh, also war er wohl doch noch am Leben. Aber war er nicht aus dem … und hatte er dann nicht diesen Koffer … und … Julius hieß er, oder?
Die Puzzleteilchen fielen an ihren Platz, Allan war wach. Er lag auf einer Matratze auf dem Boden von Julius’ Schlafzimmer, während dieser in der Tür stand und seine Frage wiederholte. Ob Allan zuerst die gute oder die schlechte Neuigkeit hören wolle?
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