Allan Karlssons Vater war ein ebenso fürsorglicher wie zorniger Mann. Fürsorglich gegenüber seiner Familie, zornig auf die Gesellschaft im Allgemeinen und auf alle, die man irgendwie als ihre Repräsentanten betrachten konnte. Außerdem war er bei den feineren Herrschaften nicht wohlangesehen, nicht zuletzt deswegen, weil er sich einmal in Flen auf den Marktplatz gestellt und für Verhütungsmittel geworben hatte. Dafür wurde er mit einem Bußgeld von zehn Kronen belegt, und er musste sich mit diesem Thema nie mehr persönlich auseinandersetzen, weil ihm Allans Mutter ab da nämlich vor lauter Scham jeglichen Zutritt verwehrte. Damals war ihr Sohn sieben und damit alt genug, seine Mutter um eine genauere Erklärung zu bitten, warum das Bett des Vaters plötzlich im Holzschuppen neben der Küche stand. Doch die Antwort lautete nur, wenn er sich keine Ohrfeige einfangen wolle, solle er nicht so viele Fragen stellen. Da Allan, wie die Kinder aller Generationen vor und nach ihm, wenig Lust auf eine Ohrfeige verspürte, ließ er die Sache also auf sich beruhen.
Ab diesem Tage tauchte Allans Vater jedoch immer seltener im eigenen Zuhause auf. Tagsüber verrichtete er leidlich seine Arbeit bei der Eisenbahn, abends diskutierte er auf allen möglichen Versammlungen über den Sozialismus. Nur wo er seine Nächte verbrachte, wurde Allan nie so ganz klar.
Seine wirtschaftliche Verantwortung trug der Vater aber weiterhin. Den Großteil seines Lohns lieferte er allwöchentlich bei seiner Frau ab, bis er eines Tages gefeuert wurde, weil er gegen einen Reisenden gewalttätig geworden war, der auf dem Weg nach Stockholm war, um mit Tausenden anderer Bürger dem König seine Bereitschaft zur Landesverteidigung zu demonstrieren.
»Dann verteidige dich doch erst mal hiergegen«, sagte Allans Vater und beförderte den Mann mit einer rechten Geraden in den nächsten Graben.
Nach seiner fristlosen Kündigung konnte Allans Vater die Familie nicht mehr ernähren. Da es ihm gelungen war, sich einen Ruf als Gewalttäter und Verhütungsmittelbefürworter einzuhandeln, hatte es gar keinen Zweck mehr, dass er sich um eine andere Arbeit bewarb. Er konnte nur noch auf die Revolution warten oder diese beschleunigen, denn die Dinge entwickelten sich ja immer so schrecklich langsam. Allans Vater konnte sehr zielstrebig sein, wenn er wollte. Der schwedische Sozialismus brauchte ein internationales Vorbild. Erst dann würde die Sache ins Rollen kommen und Großhändler Gustavsson und seinesgleichen ins Schwitzen bringen.
Also packte Allans Vater seinen Koffer und fuhr nach Russland, um den Zaren zu stürzen. Allans Mutter fehlte natürlich der ausbleibende Eisenbahnerlohn, aber ansonsten war sie ganz glücklich damit, dass ihr Mann nicht nur die Gegend, sondern gleich das Land verlassen hatte.
Nachdem der Familienernährer emigriert war, mussten die Mutter und ihr knapp zehnjähriger Sohn allein für sich sorgen. Die Mutter ließ die vierzehn ausgewachsenen Birken rund um ihre Hütte fällen, um sie anschließend zu zersägen und zu spalten und als Feuerholz zu verkaufen. Allan ergatterte eine unterbezahlte Stelle als Laufbursche in der Produktionsstätte der Nitroglycerinfabrik bei Flen.
Den regelmäßig eintreffenden Briefen aus St. Petersburg (das wenig später in Petrograd umbenannt wurde) konnte Allans Mutter mit steigender Verwunderung entnehmen, dass Allans Vater nach einer Weile doch nicht mehr so überzeugt von den Segnungen des Sozialismus schien.
In seinen Briefen erzählte er nicht selten von politisch aktiven Freunden und Bekannten in Petrograd. Am öftesten nannte er einen Mann namens Carl. Kein sonderlich russisch klingender Name, wie Allan fand, und er wurde auch dadurch nicht russischer, dass Allans Vater ihn stattdessen Fabbe nannte, zumindest in seinen Briefen.
Wie Allans Vater berichtete, vertrat Fabbe die These, dass die Menschheit im Allgemeinen nicht wusste, was das Beste für sie war, und daher jemanden brauchte, der sie bei der Hand nahm. Daher sei die Autokratie der Demokratie überlegen, solange die gebildete, verantwortungsbewusste Gesellschaftsschicht einer Nation darauf achtete, dass der betreffende Autokrat sich gut benahm. Man müsse sich doch nur mal vor Augen halten, dass sieben von zehn Bolschewiken nicht mal lesen können, hatte Fabbe verächtlich geschnaubt. Wir können die Macht doch nicht diesen Analphabeten überlassen, oder?
In den Briefen an seine Lieben in Yxhult hatte Allans Vater in diesem Punkt allerdings die Bolschewiken in Schutz genommen, denn die Familie sollte mal sehen, wie dieses russische Alphabet aussah – kein Wunder, dass die Leute da nicht lesen lernten!
Da war es schon schlimmer, wie die Bolschewiken sich benahmen. Schmutzig waren sie, und sie soffen Wodka wie die Streckenarbeiter zu Hause, die in Sörmland die Eisenbahnschienen legten. Allans Vater hatte sich schon immer gewundert, wie die Gleise so gerade werden konnten, wenn man bedachte, was für einen Schnapskonsum diese Arbeiter so hatten – er hatte immer einen gewissen Argwohn gehegt, wenn eine schwedische Schiene eine Kurve machte.
Bei den Bolschewiken war es mindestens genauso schlimm. Fabbe behauptete, der Sozialismus werde darauf hinauslaufen, dass sich alle gegenseitig totschlagen wollten, bis nur noch einer übrig war, der die Regeln diktierte. Da war es doch besser, sich von vornherein auf jemanden wie Zar Nikolaj zu besinnen, immerhin ein guter, gebildeter Mann mit gewissen Visionen.
Fabbe wusste durchaus, wovon er redete, denn er hatte den Zaren tatsächlich getroffen, sogar mehr als einmal. Er behauptete, dass Nikolaj II. von Grund auf gutherzig war. Der Mann habe nur eine Menge Pech gehabt in seinem Leben, aber das konnte ja nicht ewig anhalten. Die Missernten und Bolschewikenaufstände waren schuld. Und dann muckten auch noch die Deutschen auf, weil der Zar die Truppen mobilgemacht hatte. Dabei hatte er doch nur den Frieden wahren wollen. Schließlich hatte nicht der Zar den Erzherzog und seine Frau in Sarajevo erschossen. Oder?
So argumentierte Fabbe, wer auch immer er nun sein mochte, und irgendwie überzeugte er auch Allans Vater von seinen Argumenten. Außerdem hatte der Vater Mitleid mit dem vom Pech verfolgten Zaren, er konnte es ihm so gut nachfühlen. Früher oder später musste sich das Blatt ja wenden, sowohl für russische Zaren als auch für ganz normale, ehrbare Leute aus der Gegend um Flen.
Geld schickte der Vater nie aus Russland, aber nach ein paar Jahren kam einmal ein Paket mit einem Osterei aus Emaille, das der Vater beim Kartenspiel von seinem russischen Freund gewonnen hatte. Denn abgesehen von Trinken, Diskutieren und Kartenspielen tat Fabbe nicht viel mehr, als solche Eier herzustellen.
Der Vater schenkte Fabbes Osterei seiner »lieben Frau«, die nur wütend wurde und meinte, der verdammte Dummkopf hätte wenigstens ein richtiges Ei schicken können, damit die Familie sich satt essen konnte. Sie war schon drauf und dran, das Ei zum Fenster hinauszuwerfen, bevor sie sich eines Besseren besann. Großhändler Gustavsson könnte ja vielleicht etwas dafür hinblättern, der wollte doch immer etwas Besonderes sein, fand sie, und besonders selten war dieses Ei ja auch.
Man stelle sich die Verwunderung von Allans Mutter vor, als Großhändler Gustavsson ihr nach zweitägigem Überlegen achtzehn Kronen für Fabbes Ei bot. Und die bekam sie auch nicht in bar, sie wurden ihr nur von ihren Schulden abgezogen. Aber immerhin etwas.
Danach hoffte die Mutter auf weitere Eier, aber stattdessen erfuhr sie in dem folgenden Brief, dass die Generäle des Zaren ihren Autokraten verraten hatten und er abdanken musste. In seinem Brief verfluchte Allans Vater seinen Eier produzierenden Freund, der prompt in die Schweiz geflohen war. Er selbst wollte selbstverständlich bleiben und gegen diesen Emporkömmling und Clown kämpfen, der jetzt an die Macht gekommen war, ein Mann namens Lenin.
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