Der Koffer hatte einen Griff an der Seite, und wenn man daran zog, rollte er brav auf seinen kleinen Rollen hinter einem her. Allan folgte also mit kleinen, schlurfenden Schritten dem Weg in den Wald. Hinter ihm holperte und schlingerte der Koffer über den Boden.
Nach ein paar hundert Metern erreichte Allan das, was offensichtlich Byringe Bahnhof war – beziehungsweise ein stillgelegtes Bahnhofsgebäude neben einer äußerst stillgelegten Bahnstrecke.
Er mochte ja ein Prachtexemplar von einem Hundertjährigen sein, aber nun war es doch alles ein bisschen viel gewesen in der kurzen Zeit. Allan musste sich auf den Koffer setzen, um sowohl seine Gedanken als auch neue Kräfte zu sammeln.
Schräg links vor ihm stand das heruntergekommene, zweigeschossige gelbe Bahnhofsgebäude. Die Fenster im Erdgeschoss waren allesamt mit rohen Brettern vernagelt. Schräg rechts verschwand das stillgelegte Eisenbahngleis in der Ferne, schnurgerade weiter in den umgebenden Wald hinein. Der Natur war es zwar noch nicht gelungen, die Schienen wieder ganz zurückzuerobern, aber das war sicher nur eine Frage der Zeit.
Der hölzerne Bahnsteig wirkte nicht gerade vertrauenerweckend. An der äußersten Planke konnte man immer noch die aufgemalte Warnung lesen: Betreten der Gleise verboten . Na, das Gleis konnte man sicher gefahrlos betreten, dachte Allan. Aber welcher Mensch, der auch nur ein Fünkchen Verstand besaß, würde freiwillig diesen Bahnsteig betreten?
Die Frage wurde umgehend beantwortet, denn auf einmal ging die Tür des Gebäudes auf, und ein Mann um die siebzig mit braunen Augen und grauen Bartstoppeln kam festen Schrittes herausspaziert. Er trug solide Stiefel, ein kariertes Hemd, eine schwarze Lederweste und eine Schirmmütze. Offenbar vertraute er darauf, dass die Bretter nicht unter ihm nachgaben, denn seine ungeteilte Aufmerksamkeit galt dem alten Mann.
Mitten auf dem Bahnsteig blieb der Schirmmützenmann stehen und musterte ihn mit einem Anflug von Feindseligkeit. Aber dann schien er sich eines Besseren zu besinnen, wahrscheinlich weil ihm aufging, was für ein gebrechliches Menschlein sich da auf sein Grundstück verirrt hatte.
Allan saß immer noch auf seinem frisch gestohlenen Koffer und wusste nicht, was er sagen sollte. Aber er sah dem Schirmmützenmann in die Augen und wartete auf dessen Eröffnungszug. Der kam ziemlich rasch und gar nicht so unfreundlich, wie man zunächst hätte erwarten mögen. Eher abwartend.
»Wer sind Sie, und was machen Sie auf meinem Bahnsteig?«, erkundigte sich der Schirmmützenmann.
Allan gab keine Antwortet. Er wusste nicht recht, ob der Mann, der ihm da gegenüberstand, Freund oder Feind war. Doch dann fiel ihm ein, dass es vielleicht ganz klug wäre, sich nicht mit dem einzigen Menschen weit und breit anzulegen, der ihn in die Wärme einer Behausung bitten konnte, bevor die Abendkühle wirklich unerbittlich zuschlug. Daher beschloss er, einfach die Wahrheit zu sagen.
Also erzählte Allan, dass er Allan hieß, dass er auf den Tag genau hundert Jahre alt war und für sein Alter noch ganz munter, sogar so munter, dass er aus dem Heim abgehauen war, und dass er außerdem den Reisekoffer eines jungen Mannes gestohlen hatte, der darüber bestimmt nicht allzu erfreut sein dürfte, dass überdies Allans Knie im Moment nicht in Bestform waren und dass Allan sich wünschte, eine kleine Pause vom Spazierengehen einlegen zu können.
Nachdem er seine Ausführungen beendet hatte, verstummte er, blieb auf dem Koffer sitzen und wartete auf den Urteilsspruch.
»Na so was«, sagte der Schirmmützenmann und grinste. »Ein Dieb!«
»Ein alter Dieb«, verbesserte Allan missmutig.
Der Mann mit der Schirmmütze sprang geschmeidig vom Bahnsteig und näherte sich dem Hundertjährigen, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen.
»Bist du wirklich hundert Jahre alt?«, erkundigte er sich. »Dann hast du jetzt sicher Hunger.«
Allan verstand die Logik dieser Schlussfolgerung nicht ganz, aber hungrig war er tatsächlich. Also fragte er, was denn auf der Speisekarte stehe und ob es möglicherweise zu machen sei, dass er auch einen Schnaps dazubekam.
Der Schirmmützenmann hielt ihm die Hand hin, um sich zum einen als Julius Jonsson vorzustellen und zum anderen dem Alten auf die Füße zu helfen. Dann teilte er Allan mit, dass er ihm den Koffer abnehmen könne, dass es Elchbraten gebe, wenn es recht sei, und dass er auf jeden Fall einen Schnaps dazubekommen könne, zur Wiederherstellung von Körper und Knien.
Mühsam kletterte Allan auf den Bahnsteig. Die Schmerzen sagten ihm, dass er noch lebte.
Julius Jonsson hatte seit mehreren Jahren keinen mehr zum Reden gehabt, daher kam ihm die Begegnung mit dem Alten mit Koffer gerade recht. Nachdem es einen Schnaps fürs erste Knie gegeben hatte und einen fürs zweite, gefolgt von einem weiteren für den Rücken und für den Nacken sowie einem für den Appetit, war man schon in bester Plauderstimmung. Allan wollte wissen, wovon Julius lebte, und der antwortete mit einer langen Erzählung.
Julius war im Norden zur Welt gekommen, in Strömbacka, unweit von Hudiksvall, als einziges Kind der Bauern Anders und Elvina Jonsson. Er arbeitete als Knecht auf dem Hof und bekam jeden Tag Prügel von seinem Vater, welcher der Meinung war, dass sein Sohn zu gar nichts taugte. Als Julius fünfundzwanzig war, starb erst seine Mutter an Krebs, und ihr Sohn trauerte sehr um sie. Wenig später ertrank der Vater im Sumpf, bei dem Versuch, eine Kuh zu retten. Auch da trauerte Julius sehr, denn er hatte wirklich an der Kuh gehangen.
Der junge Julius hatte keinerlei Talent zum Beruf des Landwirts (da hatte sein Vater also recht gehabt), und Lust genauso wenig. Also verkaufte er alles bis auf ein paar Hektar Wald, weil er glaubte, die könnten ihm auf seine alten Tage noch etwas nützen.
Dann fuhr er nach Stockholm und brachte innerhalb von zwei Jahren sein ganzes Geld durch. Woraufhin er in den Wald zurückkehrte.
Mit gewissem Eifer meldete er sich auf die Ausschreibung eines Großauftrags des Elektrizitätswerks Hudiksvall für fünftausend Hochspannungsmasten. Und da er sich für Details wie Arbeitgeberabgaben, Umsatzsteuer und dergleichen nicht interessierte, erhielt er den Zuschlag. Mit Hilfe von zehn ungarischen Flüchtlingen gelang es ihm außerdem, die Holzmasten fristgerecht zu liefern, und er bekam so viel Geld dafür, dass er es kaum glauben konnte.
So weit, so gut. Doch Julius hatte leider ein bisschen schummeln müssen, denn die Bäume waren noch nicht ganz ausgewachsen gewesen. Daher waren die Masten einen Meter kürzer als bestellt – was wohl keiner gemerkt hätte, aber leider verhielt es sich so, dass sich fast jeder Bauer der Gegend damals einen Mähdrescher angeschafft hatte.
Das Elektrizitätswerk Hudiksvall schlug nun auf sämtlichen Äckern und Weiden der Gegend die Masten in den Boden, und als die Erntezeit gekommen war, wurden an einem einzigen Vormittag die Hochspannungsleitungen an sechsundzwanzig Stellen heruntergerissen, und zwar von zweiundzwanzig verschiedenen, aber gleichermaßen fabrikneuen Mähdreschern. In dieser Ecke der Provinz Hälsingland brach daraufhin die Stromversorgung auf Wochen zusammen, die Erntearbeiten kamen zum Erliegen, und die Melkmaschinen streikten. Es dauerte nicht lang, bis der Zorn der Bauern, der sich zunächst gegen das Elektrizitätswerk Hudiksvall gerichtet hatte, stattdessen auf den jungen Julius niederging.
»Damals wurde der Ausdruck vom ›fröhlichen Hudiksvaller‹ nicht geprägt, das kann ich dir versichern. Ich musste mich sieben Monate im Hotel in Sundsvall verstecken, und dann war mein Geld wieder alle. – Wie wäre es mit noch einem Schnäpschen?«, fragte Julius.
Allan fand auch, dass sie noch einen trinken sollten. Den Elchbraten hatten sie mit einem gepflegten Pils heruntergespült, und jetzt ging es Allan so wunderbar, dass ihm der Gedanke ans Sterben plötzlich fast wieder Angst machte.
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