Kraft seines Amtes fühlte der Stadtrat, dass er jetzt das Heft in die Hand nehmen musste. Er beauftragte das Personal, sich in Zweiergruppen auf die Suche zu machen. Allan konnte ja noch nicht weit gekommen sein, die Gruppen sollten sich also auf die nähere Umgebung konzentrieren. Eine wurde in den Park geschickt, eine ins Spirituosengeschäft (wohin sich Allan zuweilen verirrte, wie Schwester Alice zu berichten wusste), eine zu den anderen Geschäften an der Storgatan und eine zum Gemeindesaal. Der Stadtrat selbst wollte im Altersheim bleiben, um ein Auge auf die Alten zu haben, die sich noch nicht in Luft aufgelöst hatten, und um sich die nächsten Schritte zu überlegen. Er bat die Suchtrupps, ein bisschen diskret vorzugehen, die Sache musste ja nicht unnötig breitgetreten werden. Im allgemeinen Aufruhr war dem Stadtrat aber ganz entgangen, dass eine der Zweiergruppen, die er gerade losgeschickt hatte, aus einer Reporterin der Lokalzeitung und ihrem Fotografen bestand.
* * * *
Das Reisezentrum fiel nicht in den Bereich, in den der Stadtrat seine Suchtrupps geschickt hatte. Dort hatte allerdings eine Einergruppe – bestehend aus einem erbosten, schmächtigen jungen Mann mit langen, fettigen blonden Haaren, struppigem Bart und einer Jeansjacke mit der Aufschrift Never Again auf dem Rücken – bereits alle denkbaren Schlupfwinkel des Bahnhofs durchkämmt. Nachdem weder der Alte noch der Koffer auffindbar waren, trat der junge Mann resolut vor den kleinen Beamten hinter dem einzigen geöffneten Schalter, um sich Informationen über die eventuellen Reisepläne des Alten zu verschaffen.
Der kleine Beamte hatte seinen Job zwar satt, aber ein gewisses Berufsethos hatte er sich denn doch noch bewahrt. Deswegen erklärte er dem geräuschvoll auftretenden jungen Mann, die Reisenden an diesem Busbahnhof könnten sich jederzeit darauf verlassen, dass ihre persönlichen Angaben mit Diskretion behandelt wurden. Ein wenig hochmütig fügte er hinzu, dass er unter keinerlei Umständen geneigt sei, dem Ansuchen des jungen Mannes stattzugeben und derlei Informationen mit ihm zu teilen.
Der junge Mann schwieg einen Moment und verdolmetschte sich die Worte des kleinen Beamten in verständliches Schwedisch. Daraufhin ging er fünf Meter nach links, zur nicht allzu stabilen Eingangstür zum Schalterbereich. Er machte sich gar nicht erst die Mühe zu überprüfen, ob sie vielleicht abgeschlossen war, sondern nahm bloß kurz Anlauf und trat mit dem rechten Stiefel die Tür ein, dass die Splitter in alle Richtungen stoben. Der kleine Beamte konnte nicht einmal den Telefonhörer abheben, nach dem er gegriffen hatte, um Hilfe zu rufen, denn ehe er sich’s versah, zappelte er vor dem jungen Mann in der Luft, der ihn mit festem Griff bei den Ohren gepackt und hochgehoben hatte.
»Ich weiß vielleicht nicht, was ›Diskretion‹ bedeutet, aber eines weiß ich ganz sicher, nämlich wie man die Leute zum Reden bringt«, sagte der junge Mann zu dem kleinen Beamten, bevor er ihn mit einem leichten Rums wieder auf seinen Drehstuhl setzte.
Anschließend beschrieb er ihm, was er – unter Zuhilfenahme von Hammer und Nägeln – mit dem Geschlechtsorgan seines Gegenübers anstellen würde, falls dieser seinem Wunsch nicht entsprechen sollte. Die Beschreibung war so anschaulich, dass der kleine Beamte sofort bereit war zu erzählen, was er wusste, nämlich dass der Alte wahrscheinlich mit einem Bus Richtung Strängnäs unterwegs war. Ob er einen Koffer mitgenommen hatte, könne er allerdings nicht sagen, weil er nämlich nicht zu den Leuten gehöre, die harmlose Reisende ausspionierten.
An dieser Stelle verstummte der kleine Beamte, um zu sehen, wie zufrieden der junge Mann mit der Auskunft war, und er kam zu dem Schluss, dass er wohl gut daran tat, weitere Angaben hinzuzufügen. Deshalb erklärte er rasch, dass es auf der Strecke von Malmköping nach Strängnäs zwölf Haltestellen gebe und dass der Alte an jeder beliebigen aussteigen konnte. Wer in dieser Frage genauere Auskunft geben könne, sei der Busfahrer, und der träfe laut Fahrplan um 19.10 Uhr des heutigen Abends wieder in Malmköping ein, auf der Rückfahrt Richtung Flen.
Jetzt setzte sich der junge Mann neben den verschreckten kleinen Beamten mit den schmerzenden Ohren.
»Muss mal kurz nachdenken«, verkündete er.
Und dann dachte er nach. Er dachte, dass er mit ziemlicher Sicherheit die Handynummer des Busfahrers aus dem kleinen Mann herausschütteln konnte, um dann den Fahrer anzurufen und ihm mitzuteilen, dass der Koffer des Alten Diebesgut war. Doch dabei bestand freilich die Gefahr, dass der Busfahrer die Polizei einschaltete, und das wollte der junge Mann ganz sicher nicht. Außerdem war es im Grunde noch nicht so eilig, denn der Alte hatte schrecklich alt ausgesehen, und wenn er nun auch noch einen Koffer mit sich herumschleppen musste, würde er sich gezwungenermaßen auch ab Strängnäs mit Zug, Bus oder Taxi weiterbewegen. So würde er weitere Spuren hinterlassen, und der junge Mann würde überall einen finden, dem er die Ohren langziehen konnte, damit er ihm erzählte, wohin der Alte unterwegs war. Der junge Mann hatte großes Vertrauen in seine Fähigkeit, die Leute dazu zu überreden, ihr Wissen mit ihm zu teilen.
Als er fertig nachgedacht hatte, beschloss er, den entsprechenden Bus einfach abzuwarten und den Fahrer ohne übertriebene Freundlichkeit zu befragen.
Da die Sache nun klar war, stand der junge Mann wieder auf und erklärte seinem Gegenüber, was mit ihm, seiner Frau, seinen Kindern und seinem Haus passieren würde, falls es ihm einfallen sollte, der Polizei oder sonst wem zu erzählen, was gerade vorgefallen war.
Der kleine Schalterbeamte hatte zwar weder Frau noch Kind, aber ihm war doch daran gelegen, seine beiden Ohren sowie sein Geschlechtsorgan in einigermaßen unversehrtem Zustand zu behalten. Also schwor er bei seiner staatlichen Eisenbahnerehre, dass er keiner Menschenseele etwas verraten würde.
Und diesen Schwur hielt er bis zum nächsten Tag.
* * * *
Die ausgesandten Zweiergruppen kehrten zum Altersheim zurück und berichteten von ihren Beobachtungen. Beziehungsweise dem Mangel an ebensolchen. Der Stadtrat hatte instinktiv beschlossen, die Polizei aus dem Spiel zu lassen, und überlegte hin und her, wie die beste Alternative aussehen könnte. Da nahm sich die Reporterin die Frage heraus:
»Was haben Sie denn nun vor, Herr Stadtrat?«
Der Stadtrat schwieg ein paar Sekunden, dann verkündete er:
»Wir werden natürlich die Polizei einschalten.«
O Gott, wenn er eines auf dieser Welt hasste, dann war es die freie Presse.
* * * *
Allan wachte davon auf, dass der Fahrer ihn freundlich anstupste und ihm mitteilte, sie hätten jetzt Byringe Bahnhof erreicht. Anschließend bugsierte er den Koffer aus der Vordertür, und Allan folgte ihm.
Auf die Frage des Fahrers, ob der Herr ab hier allein zurechtkomme, erwiderte Allan, dass der Fahrer sich keine Sorgen zu machen brauche. Dann bedankte er sich für die Hilfe und winkte ihm zum Abschied, während der Bus wieder auf die Landstraße 55 fuhr und seinen Weg nach Strängnäs fortsetzte.
Die Nachmittagssonne stand schon recht tief hinter den hohen Fichten, die ringsum aufragten, und langsam begann er in seinem dünnen Jackett und den Pantoffeln zu frieren. Ein Byringe war weit und breit nicht zu sehen, geschweige denn der dazugehörige Bahnhof. Hier gab es nur Wald, Wald und nochmals Wald. In drei Richtungen. Und nach rechts ging ein kleiner Waldweg ab.
Allan überlegte, dass der Koffer, den er kurz entschlossen mitgenommen hatte, vielleicht warme Kleider enthielt. Aber der war abgeschlossen, und ohne Schraubenzieher oder anderes Werkzeug würde er ihn sowieso nicht aufbekommen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zu bewegen, wenn er nicht hier an der Landstraße herumstehen und langsam erfrieren wollte. (Die Erfahrung sagte ihm allerdings, dass ihm das wohl nicht mal gelingen würde, wenn er es darauf anlegte.)
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