Allan musste ihm zustimmen, erinnerte Julius aber daran, dass er schon recht betagt war und nicht mehr so gut auf den Beinen wie einst. Julius versprach, dafür zu sorgen, dass sie so wenig wie möglich zu Fuß gehen mussten. Aber verschwinden müssten sie jetzt. Und es wäre wohl das Beste, wenn sie den jungen Mann aus dem Kühlraum mitnähmen, denn es würde den beiden alten Männern wohl kaum zum Vorteil gereichen, wenn ihre Verfolger hier eine Leiche fanden.
Nach dem Frühstück wurde es also Zeit zum Aufbruch. Julius und Allan holten den Toten aus dem Kühlraum und setzten ihn auf einen Stuhl, während sie ihre Kräfte für den letzten Schritt sammelten.
Allan musterte den jungen Mann von oben bis unten und sagte:
»Für seine Größe hat er ungewöhnlich kleine Füße. Seine Schuhe braucht er jetzt doch sicher nicht mehr, oder?«
Julius antwortete, dass es heute Vormittag allerdings recht kalt sei und dass Allan wohl größere Gefahr laufe, sich erfrorene Zehen zu holen, als der junge Mann. Wenn Allan also glaube, dass ihm die Schuhe passten, solle er doch einfach zugreifen. Das Einverständnis des jungen Mannes sozusagen vorausgesetzt.
Die Schuhe waren Allan zwar ein bisschen zu groß, aber sie waren solide und wesentlich besser für die Flucht geeignet als ein Paar ausgelatschte Pantoffeln.
Der nächste Schritt bestand nun darin, den jungen Mann in den Flur zu zerren und ihn die Treppe hinunterzubugsieren. Als zu guter Letzt alle drei auf dem Bahnsteig angekommen waren – zwei im Stehen, einer im Liegen –, fragte Allan, welchen Schritt sich Julius als Nächstes überlegt habe.
»Rühr dich nicht von der Stelle«, befahl Julius. »Du auch nicht«, wandte er sich an den jungen Mann, sprang vom Bahnsteig und lief in einen Schuppen hinter dem einzigen Abstellgleis.
Einen Augenblick später erschien er wieder – mit einer Fahrraddraisine.
»Baujahr 1954«, verkündete er. »Willkommen an Bord.«
Julius saß vorne und tat die Hauptarbeit, Allan saß direkt hinter ihm und ließ seine Füße einfach nur der Pedalbewegung folgen, und der Tote saß auf dem Sitz auf der rechten Seite. Sein Kopf war so an einem Bürstenstiel festgebunden, dass er in aufrechter Position gehalten wurde, und vor den leer starrenden Augen hatte er eine dunkle Sonnenbrille.
Es war fünf vor elf, als die Reisegesellschaft aufbrach. Drei Minuten später fuhr ein dunkelblauer Volvo vor dem stillgelegten Bahnhofsgebäude von Byringe vor. Diesem Auto entstieg Kriminalkommissar Göran Aronsson.
Das Haus sah zweifellos verlassen aus, aber es konnte nichts schaden, wenn er sich die Sache näher ansah, bevor er nach Byringe weiterfuhr, um die Bewohner des Ortes zu befragen.
Vorsichtig betrat Aronsson den Bahnsteig, der keinen allzu stabilen Eindruck auf ihn machte. Er öffnete die Tür und rief: »Hallo, jemand zu Hause?« Da er keine Antwort bekam, ging er die Treppe in den ersten Stock hinauf. Doch, dieses Haus wirkte durchaus bewohnt. Im Küchenherd glühte immer noch die Asche, und auf dem Tisch stand ein fast ganz aufgegessenes Frühstück. Zwei Gedecke.
Und auf dem Boden ein Paar ausgelatschte Pantoffeln.
* * * *
Never Again bezeichnete sich offiziell als Biker-Club, war aber nichts anderes als eine kleine Gruppe kriminell vorbelasteter junger Männer, angeführt von einem kriminell noch stärker vorbelasteten Mann mittleren Alters. Allesamt hegten sie kriminelle Absichten.
Der Anführer der Gruppe hieß Per-Gunnar Gerdin, aber niemand wagte ihn anders zu nennen als »Chef«, denn das hatte der Chef selbst so bestimmt, und er war fast zwei Meter groß, wog um die hundertdreißig Kilo und fuchtelte gern mit Messern herum, wenn ihm irgendjemand oder irgendetwas gegen den Strich ging.
Dabei hatte er seine kriminelle Karriere eher vorsichtig begonnen: Mit einem gleichaltrigen Freund importierte er Obst und Gemüse nach Schweden, schummelte aber bei der Angabe des Herkunftslandes, um zum einen Steuern zu sparen und zum anderen einen höheren Kilopreis von den Kunden verlangen zu können.
Sein Kompagnon war im Grunde ganz in Ordnung, nur leider war sein Gewissen nicht flexibel genug. Das zeigte sich, als der Chef vorschlug, Formalin in Lebensmittel zu mischen. Er hatte gehört, dass man das in Asien so machte, und er hatte die Idee, dass man doch einfach schwedische Köttbullar von den Philippinen importieren könnte, ganz billig per Schiffsfracht. Mit der richtigen Menge Formalin würden sich die Fleischklößchen auch drei Monate halten, wenn nötig, selbst bei Temperaturen um die dreißig Grad.
Die Einkaufskosten wären dann so niedrig, dass sie die Köttbullar nicht mal als schwedisches Produkt deklarieren müssten, um sie zu verkaufen. Dänisch würde auch reichen, meinte der Chef, aber sein Kompagnon stellte sich quer. Seiner Meinung nach war Formalin dazu da, Leichen einzubalsamieren, aber nicht, Fleischklöpsen ewiges Leben zu verleihen.
Also gingen die beiden ab da getrennte Wege. Allerdings wurde auch nichts aus den Formalinköttbullar, weil der Chef auf die Idee verfiel, sich einfach eine Wollmütze über den Kopf zu ziehen, seinen allzu seriösen Konkurrenten »Obstimport Stockholm« zu überfallen und die Tageseinnahmen einzusacken.
Unter Einsatz einer Machete und des wütenden Schreis » Her mit dem Geld, sonst … « war er zu seiner eigenen Überraschung mit einem Schlag vierzigtausend Kronen reicher. Warum sollte man sich also weiter mit mühseligen Importgeschäften herumschlagen, wenn man so gutes Geld verdienen konnte, fast ohne einen Finger rühren zu müssen?
Also behielt er den einmal eingeschlagenen Weg bei. Meistenteils ging es gut, nur ein paar unfreiwillige Ferien musste er einlegen während der beinahe zwanzig Jahre als selbstständiger Unternehmer in der Raubüberfallsbranche.
Doch dann fand der Chef, dass es Zeit wurde, in größeren Dimensionen zu denken. Er besorgte sich zwei wesentlich jüngere Handlanger, denen er selten dämliche Spitznamen verpasste (den einen nannte er »Bolzen«, den anderen »Humpen«) und mit denen er erfolgreich zwei Überfälle auf Geldtransporter durchführte.
Ein dritter Überfall endete jedoch damit, dass alle drei viereinhalb Jahre im Hochsicherheitsgefängnis Hall landeten. Da kam dem Chef die Idee zu Never Again , und er begann Pläne zu schmieden. Zunächst sollte der Club aus ungefähr fünfzig Mitgliedern bestehen, verteilt auf die drei Unternehmenszweige »Raub«, »Drogen« und »Erpressung«. Der Name Never Again entsprang der Vision, dieser kriminellen Organisation eine derart professionelle und wasserdichte Struktur zu geben, dass von Hall oder anderen Justizvollzugsanstalten nie mehr die Rede sein würde. Never Again sollte das Real Madrid der organisierten Kriminalität werden (der Chef war Fußballfan).
Anfangs lief der Rekrutierungsprozess in Hall richtig gut. Aber dann geriet ein Brief von seiner Mutter in der Anstalt auf Abwege, bevor er in seine Hände gelangte. Sie schrieb unter anderem, ihr kleiner Per-Gunnar solle im Gefängnis aufpassen, dass er nicht in schlechte Gesellschaft geriet, außerdem solle er auf seine empfindlichen Mandeln achtgeben, und sie freue sich jetzt schon darauf, das Brettspiel mit der Schatzinsel mit ihm zu spielen, sobald er wieder draußen sei.
Danach half es nichts mehr, dass der Chef in der Essensschlange ein paar Jugoslawen beinahe abstach und auch sonst für reichlich Rabatz sorgte. Seine Autorität war auf immer dahin. Von den dreißig bis dahin rekrutierten Männern sprangen siebenundzwanzig ab. Abgesehen von Bolzen und Humpen blieb nur noch ein Venezulaner, José María Rodriguez, wobei Letzterer heimlich in den Chef verknallt war, was er sich aber nicht mal selbst eingestanden hätte.
Wie dem auch sei, der Venezulaner bekam den Namen »Caracas«, nach der Hauptstadt seiner Heimat. Ansonsten mochte der Chef aber drohen und fluchen, so viel er wollte, er konnte keine Mitglieder mehr für seinen Club gewinnen. Und eines Tages wurden seine drei Handlanger und er aus dem Gefängnis entlassen.
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