Natürlich hatten die Journalisten jede Menge Fragen, doch der Polizeipräsident zog sich geschickt aus der Affäre. Er konnte immerhin noch bekannt geben, dass Karlsson und seine mutmaßlichen Entführer heute gegen Mittag in der kleinen Gemeinde Åkers Styckebruk gesehen worden waren. Abschließend bat er den besten Freund der Polizei, die Öffentlichkeit, um sachdienliche Hinweise.
Zur Enttäuschung des Landespolizeichefs schien das Fernsehteam bereits nach Hause gefahren zu sein. Das wäre nie passiert, wenn dieser Trödler Aronsson rechtzeitig mit seinen Informationen über die Entführung herausgerückt wäre. Doch Expressen und Aftonbladet waren auf jeden Fall vertreten, wie auch die Lokalzeitung und ein Reporter des Lokalradios. Ganz hinten im Speisesaal des Hotels Plevnagården stand noch ein Mann, den der Polizeichef nicht vom Vortag wiedererkannte. Vielleicht jemand von der Nachrichtenagentur?
Doch Humpen war nicht von der Nachrichtenagentur, ihn hatte der Chef in Stockholm geschickt. Und langsam, aber sicher kam er zu der Überzeugung, dass Bolzen doch mit der Kohle abgehauen war. Wenn das stimmte, dann war er schon so gut wie tot.
* * * *
Als der Kommissar beim Hotel Plevnagården ankam, hatte sich das Presseaufgebot bereits wieder zerstreut. Auf dem Herweg hatte Aronsson beim Altersheim haltgemacht und sich bestätigen lassen, dass die gefundenen Pantoffeln Allan Karlsson gehörten (Schwester Alice hatte nur kurz daran geschnuppert, eine Grimasse gezogen und genickt).
Aronsson hatte das Pech, im Foyer mit dem Polizeichef zusammenzustoßen. Er wurde über die Pressekonferenz informiert und bekam den Auftrag, das Drama aufzuklären, und zwar am besten so, dass keine logischen Widersprüche zwischen der Wahrheit und den Angaben des Polizeichefs entstanden.
Daraufhin ging der Polizeipräsident seiner Wege, er hatte schließlich noch anderes zu tun. So war es zum Beispiel höchste Zeit, den Staatsanwalt einzuschalten.
Aronsson setzte sich erst mal mit einer Tasse Kaffee hin, um über die letzten Wendungen in diesem seltsamen Fall nachzudenken. Er beschloss, sich auf die Frage zu konzentrieren, in was für einer Beziehung die drei Passagiere der Draisine zueinander gestanden hatten. Wenn Tengroth sich irrte und Karlsson und Jonsson sich doch in der Gewalt des dritten Reisenden befanden, spielte sich hier ein Geiseldrama ab. So hatte es der Polizeipräsident gerade auf der Pressekonferenz behauptet – allerdings sprach dieser Umstand eher gegen die Entführungstheorie, denn der Landespolizeichef behielt nur selten recht. Außerdem gab es ja Zeugen, die Karlsson und Jonsson zusammen in Åker hatten herumlaufen sehen – mit dem Koffer. War es den alten Männern am Ende gelungen, das junge, kräftige Never-Again -Mitglied zu überwältigen und in den nächsten Straßengraben zu werfen?
Unglaublich, aber nicht unmöglich. Aronsson beschloss, noch einmal den Hund aus Eskilstuna anzufordern. Das würde ein ausgedehnter Spaziergang werden für den Hund und seinen Hundeführer – von Bauer Tengroths Acker bis zum Industriegelände in Åker. Irgendwo auf dieser Strecke war das Never-Again -Mitglied ja offenbar verschwunden.
Und dann hatten sich Karlsson und Jonsson ebenfalls in Luft aufgelöst, irgendwo auf den zweihundert Metern zwischen dem Werksgelände und der Statoil-Tankstelle. Wie vom Erdboden verschluckt, und keine Menschenseele hatte etwas bemerkt. Das Einzige, was zwischen diesen beiden Punkten lag, war eine geschlossene Imbissbude.
Aronssons Handy klingelte. Es war die Notrufzentrale, bei der gerade ein neuer Hinweis eingegangen war. Diesmal war der Hundertjährige in Mjölby gesichtet worden, auf dem Beifahrersitz eines Mercedes. Wahrscheinlich gekidnappt von dem mittelalten Mann mit Pferdeschwanz, der am Steuer saß.
»Sollen wir der Sache nachgehen?«, fragte der Kollege.
»Nein«, seufzte Aronsson.
Im Laufe seiner langen Kommissarslaufbahn hatte er gelernt, brauchbare Hinweise von blankem Humbug zu unterscheiden. Dieser Gedanke war ihm ein gewisser Trost. Ansonsten wollten die Umstände des Falles ja hartnäckig im Dunkeln bleiben.
* * * *
Benny hielt in Mjölby an, um zu tanken. Vorsichtig machte Julius den Koffer auf, um einen Fünfhundertkronenschein zum Bezahlen herauszuholen.
Dann erklärte er, er wolle sich mal ein bisschen die Beine vertreten, und bat Allan, im Auto zu bleiben und den Koffer zu bewachen. Allan, der von den Strapazen des Tages rechtschaffen müde war, versprach ihm, sich nicht von der Stelle zu rühren.
Benny war als Erster zurück und setzte sich wieder ans Steuer. Wenig später saß auch Julius wieder im Auto und gab das Signal zur Abfahrt. So setzte der Mercedes seinen Weg Richtung Süden fort.
Nach einer Weile begann Julius auf dem Rücksitz herumzukramen und zu rascheln. Dann reichte er eine Tüte Schokokugeln nach vorne zu Allan und Benny.
»Guckt mal, die hab ich mitgehen lassen«, sagte er.
Allan zog die Augenbrauen hoch. »Du hast eine Tüte Bonbons gestohlen, wo wir fünfzig Millionen in unserem Koffer haben?«
»Ihr habt fünfzig Millionen in eurem Koffer?«, staunte Benny.
»Upps«, machte Allan.
»Nicht ganz«, beantwortete Julius Bennys Frage. »Du hast ja schon hunderttausend gekriegt.«
»Und den Fünfhunderter fürs Benzin«, fügte Allan hinzu.
Benny schwieg ein paar Sekunden.
»Dann habt ihr also neunundvierzig Millionen achthundertneunundneunzigtausendfünfhundert in eurem Koffer?«
»Du bist aber gut im Kopfrechnen«, lobte Allan.
Eine Weile blieb es still im Auto. Dann meinte Julius, nun könnten sie ihrem Privatchauffeur ebenso gut gleich alles erklären. Sollte Benny danach die Absprache zwischen den Parteien aufkündigen wollen, sei das in Ordnung.
* * * *
Das größte Problem bei der ganzen Geschichte hatte Benny mit der Tatsache, dass eine Person umgebracht und anschließend zum Export bestimmt worden war. Aber es war schließlich ein Unfall gewesen, auch wenn der Schnaps dabei sicherlich eine ausschlaggebende Rolle gespielt hatte. Benny selbst hatte mit Alkohol überhaupt nichts am Hut.
Dann überlegte der frisch angestellte Chauffeur noch einmal und kam zu dem Schluss, dass die fünfzig Millionen sicher von Anfang an in den falschen Händen gewesen waren und dass sie der Menschheit jetzt bestimmt von größerem Nutzen sein würden. Außerdem missfiel ihm der Gedanke, seinen neuen Job gleich am ersten Tag wieder zu kündigen.
Also versprach Benny, seinen Posten zu behalten, und erkundigte sich, was für Pläne die beiden für die nächste Zukunft hatten. Bislang hatte er nicht fragen wollen, weil er Neugier nicht für eine Eigenschaft hielt, die einem Privatchauffeur zu Gesichte stand. Doch jetzt war er ja praktisch zum Komplizen geworden.
Allan und Julius räumten ein, dass sie gerade überhaupt keinen Plan hatten. Aber man könnte doch einfach weiter der Straße folgen, bis es dunkel wurde, und dann irgendwo haltmachen, um eingehend zu beratschlagen. Diese Lösung wurde von allen angenommen.
»Fünfzig Millionen«, sagte Benny lächelnd, während er den ersten Gang einlegte.
»Neunundvierzig Millionen achthundertneunundneunzigtausendfünfhundert«, korrigierte Allan.
Dann nahmen sie Julius aber das Versprechen ab, dass er aufhörte, aus Jux zu klauen. Er meinte, das würde ihm nicht leichtfallen, denn es liege ihm im Blut, und zu etwas anderem tauge er nicht. Nichtsdestoweniger versprach er es. Eines könne man von Julius wirklich sagen, sagte Julius, nämlich dass er selten etwas versprach, aber wenn er etwas versprach, dann hielt er es auch.
Die Fahrt wurde schweigend fortgesetzt. Allan schlief schon bald auf dem Beifahrersitz ein. Julius schob sich noch eine Schokokugel in den Mund. Und Benny summte eine Melodie, deren Namen er nicht kannte.
Читать дальше