Estebáns Herkunft aus der Arbeiterklasse wollte dem potenziellen Schwiegervater überhaupt nicht gefallen. Bei seinem ersten und einzigen Treffen mit Primo de Rivera erfuhr Estebán, dass er zwei Optionen hatte: Entweder das Land verlassen, und zwar so weit weg wie nur irgend möglich, oder sich auf der Stelle einen Genickschuss verpassen lassen.
Während Primo de Rivera sein Gewehr entsicherte, antwortete Estebán, dass er sich bereits für die erste Option entschieden habe, und zog sich hastig rückwärts zurück, sorgfältig darauf achtend, dem Mann nicht das Genick zuzuwenden und auch keinen Blick mehr auf das schluchzende Mädchen zu werfen.
So weit weg wie irgend möglich, dachte Estebán und machte sich auf den Weg in den Norden, und dann noch weiter in den Norden, bis er zum Schluss so weit im Norden war, dass die Seen dort im Winter zu Eis gefroren. Da glaubte er endlich, weit genug weg zu sein. Und hier war er seitdem geblieben. Die Stelle in der Gießerei hatte er vor drei Jahren mit Hilfe eines dolmetschenden katholischen Priesters bekommen und der – Gott mochte es ihm verzeihen – wild zusammengelogenen Geschichte, in Spanien hätte er mit Sprengstoffen gearbeitet, wo er in Wirklichkeit doch nur Tomaten gepflückt hatte.
Mit der Zeit hatte Estebán nicht nur Schwedisch gelernt, sondern war auch ein recht fähiger Sprengstofftechniker geworden. Und jetzt, da er Allan an seiner Seite hatte, entwickelte er sich nachgerade zu einem wahren Fachmann.
* * * *
Allan lebte sich in der Arbeitersiedlung prächtig ein. Nach einem Jahr hatte Estebán ihm so viel beigebracht, dass er sich auch auf Spanisch verständigen konnte. Nach zwei Jahren sprach er es fast schon fließend. Doch es dauerte drei Jahre, bis Estebán den Versuch aufgab, ihm seine spanische Variante des internationalen Sozialismus aufzudrängen. Er ließ nichts unversucht, aber Allan zeigte sich gänzlich unbeeindruckt. Dieser Teil der Persönlichkeit seines besten Freundes blieb Estebán ein Rätsel. Allan vertrat ja keine entgegengesetzte Auffassung von den Dingen oder hing anderen Ideen an, er hatte ganz einfach überhaupt keine Auffassung. Oder vielleicht war ja gerade das Allans Auffassung? Estebán blieb nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden, dass er seinen Freund nicht verstand.
Allan seinerseits sah sich einem ganz ähnlichen Problem gegenüber. Estebán war ein guter Kamerad. Dass ihn die vermaledeite Politik vergiftet hatte, konnte man nicht mehr ändern – da war er ja auch weiß Gott nicht der Einzige.
Die Jahreszeiten wechselten einander noch ein paarmal ab, bis Allans Leben eines Tages eine neue Wendung nahm. Es begann damit, dass Estebán die Nachricht erreichte, Primo de Rivera sei zurückgetreten und außer Landes geflohen. Jetzt kehrte also wirklich Demokratie ein, vielleicht sogar Sozialismus, und das wollte Estebán sich nicht entgehen lassen.
Daher wollte er so schnell wie möglich in die Heimat zurückkehren. Die Gießerei lief sowieso immer schlechter, da Señor Per Albin beschlossen hatte, dass es keinen Krieg mehr geben würde. Estebán meinte, dass den beiden Sprengstofftechnikern jederzeit gekündigt werden könne. Er erkundigte sich, was sein Freund Allan denn für Pläne habe. Ob er sich vielleicht vorstellen könnte, mit ihm zu kommen?
Allan überlegte. Einerseits interessierte er sich nicht für Revolutionen, ganz gleich, ob spanische oder sonst welche. So etwas konnte zwangsläufig immer nur zu einer neuen Revolution führen, die in die entgegengesetzte Richtung ausschlug. Andererseits lag Spanien ja im Ausland, so wie alle Länder, abgesehen von Schweden. Und nachdem er sein Leben lang immer nur vom Ausland gelesen hatte, war es vielleicht gar keine dumme Idee, wenn er sich die Sache mal aus der Nähe ansah. Vielleicht würden unterwegs ja sogar ein, zwei Neger dabei herausspringen?
Als Estebán ihm versprach, dass sie auf dem Weg nach Spanien mindestens einen Neger treffen würden, konnte Allan nicht Nein sagen. Daraufhin machten sich die Freunde an die praktischen Überlegungen. Dabei kamen sie rasch zu dem Schluss, dass der Fabrikant (wie sie es ausdrückten) »ein mieser Schuft« war, der keinerlei Rücksichten verdiente. Also verabredeten sie, noch die nächste Lohntüte abzuwarten und sich dann heimlich, still und leise davonzumachen.
So kam es also, dass Allan und Estebán am nächsten Sonntag um fünf Uhr morgens aufstanden, um mit einem Fahrrad mit Anhänger gen Süden aufzubrechen, Richtung Spanien. Unterwegs wollte Estebán noch am Haus des Fabrikbesitzers anhalten, um seine komplette morgendliche Notdurft in der Milchkanne zu hinterlassen, die in aller Frühe geliefert und vor dem Grundstückstor abgestellt wurde. Als Grund gab er an, dass der Fabrikant und seine beiden Söhne ihn jahrelang als »Affen« gehänselt hätten.
»Rache ist nicht gut«, verkündete Allan. »Mit der Rache geht es wie mit der Politik, da gibt auch eins das andere, bis das Schlechte zum Schlechteren geworden ist, und das Schlechtere zum Allerschlechtesten.«
Doch Estebán gab nicht nach. Nur weil man behaarte Arme hatte und die Sprache des Fabrikanten nicht so toll sprach, war man doch wohl noch lange kein Affe?
Da musste Allan ihm zustimmen, und so einigten sich die Freunde auf einen Kompromiss: Estebán durfte in die Milchkanne pissen , aber nicht kacken.
So kam es also, dass die Gießerei in Hälleforsnäs statt zwei Sprengstofftechnikern plötzlich gar keinen mehr hatte. Zeugen hatten dem Fabrikanten noch am selben Morgen hinterbracht, dass Allan und Estebán mit Fahrrad und Anhänger auf dem Weg nach Katrineholm waren oder vielleicht sogar ein noch weiter im Süden gelegenes Ziel ansteuerten. Daher war der Unternehmer immerhin auf den bevorstehenden Personalmangel vorbereitet, als er am Sonntagvormittag auf der Veranda seiner Villa saß und nachdenklich an dem Glas Milch nippte, das Sigrid ihm freundlicherweise mit etwas Mandelbiskuit serviert hatte. Seine Laune sackte noch weiter in den Keller, als er zu dem Schluss kam, dass mit den Biskuits irgendetwas nicht in Ordnung war. Die schmeckten ganz eindeutig nach Ammoniak.
Der Fabrikant beschloss, bis nach dem Gottesdienst zu warten, dann würde er Sigrid die Ohren langziehen. Aber erst bestellte er sich noch ein Glas Milch, um sich den widerlichen Geschmack aus dem Mund zu spülen.
* * * *
Und so landete Allan Karlsson in Spanien. Drei Monate waren sie quer durch Europa unterwegs, und dabei traf er mehr Neger, als er sich jemals hätte träumen lassen. Allerdings hatte er schon nach dem ersten das Interesse verloren. Wie sich herausstellte, lag der einzige Unterschied in der Hautfarbe – abgesehen davon, dass sie sich allesamt seltsamer Sprachen bedienten, aber das machten Weiße ja auch. Man denke nur an die Bevölkerung in Småland oder in den ganz südlichen Regionen Schwedens. Diesen Lundborg musste in seiner frühen Kindheit wohl mal ein Neger erschreckt haben, anders konnte Allan es sich nicht erklären.
Als sein Freund und er schließlich Spanien erreichten, fanden sie das Land im Chaos vor. Der König war nach Rom geflohen, jetzt hatte man eine Republik ausgerufen. Die Linke schrie revolución , während das rechte Lager von den Geschehnissen im stalinistischen Russland erschreckt wurde. Würde es hier am Ende genauso aussehen?
Im ersten Moment vergaß Estebán völlig, dass sein Freund heillos unpolitisch war, und versuchte, Allan mit dem revolutionären Geist anzustecken. Doch der sträubte sich wie gewohnt. Er hatte das alles schon in seiner Jugend zu hören bekommen, und es wollte ihm immer noch nicht in den Kopf, warum sich die Leute ständig wünschten, dass alles genau umgekehrt sein sollte.
Es kam zu einem missglückten Militärputsch der Rechten, gefolgt von einem Generalstreik der Linken. Dann wurde gewählt. Die Linken gewannen, die Rechten waren beleidigt – oder war es andersrum? Allan wusste es nicht genau. Auf jeden Fall gab es am Ende Krieg.
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