Aber wo steckte der Kerl bloß? Er meldete sich für seine Reisen selten bis nie ab, und es war allgemein bekannt, dass er zu wichtigen Terminen auch mal mehrere Tage zu spät erschien.
Der Leiter der Spionageabteilung erstellte eine Liste mit einer Handvoll Orten, die sich mit Einstein in Verbindung bringen ließen, und stellte dann für jeden dieser Orte einen Agenten zur Bewachung ab. Man bewachte natürlich sein Haus in New Jersey und die Villa seines besten Freundes in Genf, außerdem seinen Verleger in Washington und zwei weitere Freunde, von denen der eine in Basel lebte, der andere in Cleveland, Ohio.
Nach mehreren Tagen wurde das geduldige Warten endlich belohnt – in Form eines Mannes mit grauem Mantel, hochgestelltem Kragen und Hut. Der näherte sich über die Straße der Villa von Albert Einsteins bestem Freund Michele Besso. Er klingelte und wurde von Besso selbst herzlich begrüßt, aber auch von einem älteren Paar, dessen Identität erst noch geklärt werden musste. Der Agent rief den Kollegen zu sich, der zweihundertfünfzig Kilometer entfernt dieselbe Aufgabe in Basel verrichtete, und nachdem man stundenlang unauffällig durchs Fenster gespäht und die Personen mit Fotos abgeglichen hatte, kamen die beiden Agenten zu dem Schluss, dass tatsächlich Albert Einstein eingetroffen war. Das ältere Paar waren dann wohl Michele Bessos Schwager Paul und seine Frau Maja, die Schwester von Albert Einstein. Das reinste Familienfest!
Albert blieb zwei gründlich bewachte Tage mit Schwester und Schwager bei seinem Freund, bevor er Mantel und Handschuhe wieder anzog und seinen Hut aufsetzte, um sich genauso diskret wieder auf den Weg zu machen, wie er gekommen war.
Doch er kam nicht weit, denn an der nächsten Ecke wurde er von hinten überfallen und binnen Sekunden auf den Rücksitz eines Autos verfrachtet, wo man ihn mit Chloroform betäubte. In diesem Wagen wurde er via Österreich nach Ungarn gebracht, das den sozialistischen Sowjetrepubliken hinreichend freundlich gesinnt war, um nicht allzu viele Fragen zu stellen, wenn von sowjetischer Seite der Wunsch geäußert wurde, auf dem Militärflughafen in Pécs zu tanken, zwei sowjetische Bürger und einen schläfrigen Dritten mitzunehmen, um sofort im Anschluss wieder zu starten und mit unbekanntem Ziel weiterzufliegen.
Tags darauf begann man, Albert Einstein im Gebäude des Geheimdienstes in Moskau unter der Oberaufsicht von Marschall Berija zu verhören. Die Frage war, ob er sich zu einer Zusammenarbeit entschließen konnte, was seiner eigenen Gesundheit nur zuträglich sein würde, oder ob er sich sperrte, was keinem zuträglich sein würde.
Leider stellte sich heraus, dass er sich für Letzteres entschied. Albert Einstein wollte nicht zugeben, dass er der Kernspaltungstechnik auch nur einen Gedanken gewidmet hatte (obwohl es allgemein bekannt war, dass er sich schon 1939 mit Roosevelt über dieses Thema ausgetauscht hatte, woraus dann das Manhattan-Projekt entstand). Tatsächlich wollte Albert Einstein nicht mal zugeben, dass er Albert Einstein war. Er behauptete mit törichter Hartnäckigkeit, dessen jüngerer Bruder Herbert Einstein zu sein. Dabei hatte Albert Einstein gar keinen Bruder, sondern nur eine Schwester. Auf diesen Trick fielen Marschall Berija und sein Vernehmungsleiter natürlich nicht herein, und man wollte schon handgreiflich werden, als etwas äußerst Merkwürdiges in der 7th Avenue in New York geschah, Tausende von Kilometern entfernt.
Dort hielt Albert Einstein nämlich in der Carnegie Hall einen populärwissenschaftlich gehaltenen Vortrag über die Relativitätstheorie vor zweitausendachthundert handverlesenen Gästen, von denen mindestens drei Informanten der Sowjetunion waren.
* * * *
Zwei Albert Einsteins, das war einer zu viel für Marschall Berija, auch wenn sich einer von ihnen auf der anderen Seite des Atlantiks befand. Ziemlich schnell war ermittelt, dass der in der Carnegie Hall der richtige war. Wer zum Teufel war also der zweite?
Als man dem Mann drohte, ihm Dinge anzutun, die kein Mensch mit sich tun lassen will, versprach der falsche Albert Einstein, dem Marschall Berija alles zu erklären.
»Ich werde die ganze Sache klarstellen, Herr Marschall – aber unterbrechen Sie mich bitte nicht, denn das macht mich nervös.«
Marschall Berija versprach, den falschen Einstein nicht zu unterbrechen, höchstens mit einer Kugel in die Schläfe, und zwar in dem Moment, in dem er wusste, dass die Geschichte, die er jetzt zu hören kriegen sollte, erlogen war.
»Also bitte, fangen Sie an. Lassen Sie sich von mir überhaupt nicht stören«, bat Marschall Berija und entsicherte seine Waffe.
Der Mann, der sich als Albert Einsteins jüngerer Bruder ausgab, holte tief Luft und begann damit, dass … er seine Behauptung wiederholte (in dem Moment wäre die Waffe beinahe schon losgegangen).
Darauf folgte eine Geschichte, die – wenn sie denn stimmte – so traurig war, dass Marschall Berija sich nicht durchringen konnte, den Erzähler gleich hinzurichten.
Herbert Einstein berichtete also, dass Hermann und Pauline Einstein tatsächlich zwei Kinder bekommen hatten: erst den Sohn Albert, dann die Tochter Maja. So weit hatte der Herr Marschall also recht. Doch leider hatte Papa Einstein die Finger und so manches andere nicht von seiner schönen, wenngleich nur mäßig begabten Sekretärin lassen können, die in seiner elektrotechnischen Fabrik in München arbeitete. Das Ergebnis war der kleine Herbert, Alberts und Majas heimlicher und mitnichten legitimer Bruder.
Wie die Agenten des Marschalls bereits hatten feststellen können, war Herbert geradezu eine Kopie von Albert, obwohl er dreizehn Jahre jünger war. Allerdings war ihm von außen nicht anzusehen, dass er seine Begabungen unglücklicherweise ausschließlich von der Mutter geerbt hatte. Beziehungsweise den völligen Mangel an Begabungen.
1895, als Herbert zwei Jahre alt war, zog die Familie Einstein von München nach Mailand. Herbert kam mit, seine Mutter allerdings nicht. Papa Einstein hatte natürlich eine annehmbare Lösung vorgeschlagen, doch Herberts Mama war nicht interessiert. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, Bratwurst gegen Spaghetti einzutauschen und Deutsch gegen … na, was auch immer man in Italien für eine Sprache sprechen mochte. Außerdem war dieses Kleinkind ganz schön lästig – es schrie ständig nach Essen und schiss sich pausenlos ein! Wenn jemand den kleinen Herbert also woandershin mitnehmen wollte, war sie einverstanden, doch sie selbst wollte lieber bleiben, wo sie war.
Herberts Mutter erhielt eine reelle Summe von Papa Einstein. Später soll sie angeblich einen echten Grafen kennengelernt haben, der sie überredete, ihr ganzes Geld in seine fast fertiggestellte Maschine zu investieren, mit der man ein Lebenselixier produzieren konnte, das alle Krankheiten der Welt heilte. Doch dann war der Graf auf einmal verschwunden, und das Elixier hatte er wohl auch mitgenommen, denn ein paar Jahre später starb Herberts verarmte Mutter an Tuberkulose.
Herbert wuchs also mit seinem großen Bruder Albert und seiner großen Schwester Maja auf. Doch um Skandale zu vermeiden, hatte Papa Einstein bestimmt, dass der Kleine nur als sein Neffe bezeichnet wurde. Herbert entwickelte nie ein sonderlich enges Verhältnis zu Albert, doch seine Schwester liebte er von Herzen, obwohl er sie auch nur Cousine nennen durfte.
»Unterm Strich«, fasste Herbert Einstein zusammen, »bin ich also von meiner Mutter verlassen und von meinem Vater verleugnet worden – und außerdem bin ich ungefähr so schlau wie ein Pfund Kartoffeln. Ich habe mein Lebtag nichts Nützliches getan, sondern einfach nur vom Erbe meines Vaters gelebt. Einen intelligenten Gedanken habe ich sicher nie gehabt.«
Während Marschall Berija ihm lauschte, hatte er seine Waffe sinken lassen und sie wieder gesichert. Die Geschichte konnte sich gut und gerne so zugetragen haben, und er hatte sogar eine gewisse Bewunderung für die Selbsterkenntnis, die der dumme Herbert Einstein zeigte.
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