Doch was sollte er jetzt tun? Nachdenklich stand der Marschall auf. Im Namen der Revolution verkniff er sich jedes Nachdenken über Richtig und Falsch. Er hatte wahrhaftig schon genug Probleme, er brauchte nicht noch eines. Ja, und das gab den Ausschlag für seine Entscheidung. Er wandte sich an die beiden Wachen an der Tür:
»Schafft ihn euch vom Hals.«
Dann verließ er den Raum.
* * * *
Die Panne mit Herbert Einstein war natürlich nichts, was man Genosse Stalin munter weitererzählte, doch Marschall Berija hatte unglaubliches Glück, denn bevor er in Ungnade fallen konnte, erzielte man in der Militärbasis in Los Alamos den entscheidenden Durchbruch.
Im Laufe der Jahre waren nämlich über hundertdreißigtausend Menschen für das sogenannte Manhattan-Projekt eingestellt worden, von denen sich natürlich mehr als einer der sozialistischen Revolution verschrieben hatte. Doch bis jetzt war es keinem gelungen, sich in die heimlichsten Flure durchzukämpfen, um der Sowjetunion auf diesem Wege zu den letzten Geheimnissen der Atombombe zu verhelfen.
Aber eines wusste man jetzt immerhin: Man wusste, dass ein Schwede das Rätsel geknackt hatte, und man wusste auch, wie er hieß!
Nachdem man das schwedische Spionagenetzwerk aktiviert hatte, dauerte es gerade mal einen halben Tag, bis man herausgefunden hatte, dass Allan Karlsson im Grand Hôtel in Stockholm logierte und dass er gerade überhaupt nichts zu tun hatte, weil ihm nämlich das geheime schwedische Atomwaffenprogramm – das die Sowjetunion (selbstverständlich) ebenfalls infiltriert hatte – gerade durch seinen Leiter hatte mitteilen lassen, man habe für seine Dienste keine Verwendung.
»Da fragt man sich doch, wer den Weltrekord in Blödheit hält«, sagte Marschall Berija zu sich selbst. »Der Leiter des schwedischen Atomwaffenprogramms oder Herbert Einsteins Mutter …«
Diesmal wählte Marschall Berija jedoch eine andere Taktik. Statt den Mann mit Gewalt zu holen, sollte Allan Karlsson überredet werden, gegen eine stattliche Aufwandsentschädigung in amerikanischen Dollar sein Wissen mit ihnen zu teilen. Überreden sollte ihn ein Wissenschaftler wie Allan selbst, kein ungeschickter Agent wie im Falle Herbert Einstein. Der betreffende Agent wurde übrigens (sicherheitshalber) zum Privatchauffeur von Julij Borissowitsch Popow gemacht, diesem unglaublich sympathischen und fast genauso unglaublich kompetenten Physiker aus dem innersten Kreis von Marschall Berijas Atomwaffenprojekt.
Und jetzt wurde berichtet, dass alles nach Plan gelaufen war: Julij Borissowitsch war auf dem Weg nach Moskau, Allan Karlsson hatte er dabei – und Karlsson hatte sich bereits positiv zum Thema Mitarbeit geäußert.
* * * *
Auf Wunsch von Genosse Stalin hatte Marschall Berija sein Moskauer Büro innerhalb der Kremlmauern. Er empfing Allan Karlsson persönlich, als dieser mit Julij Borissowitsch das Foyer betrat.
»Herzlich willkommen, Herr Karlsson«, sagte Marschall Berija und schüttelte ihm die Hand.
»Danke sehr, Herr Marschall«, sagte Allan.
Der Marschall gehörte nicht zu den Leuten, die unendlich Small Talk treiben konnten. Dafür war das Leben seiner Meinung nach zu kurz (außerdem verfügte er über keinerlei Sozialkompetenz). Daher sagte er zu Allan:
»Wenn ich die Berichte korrekt gedeutet habe, Herr Karlsson, sind Sie bereit, den sozialistischen Sowjetrepubliken in nuklearen Fragen zu assistieren, gegen eine Zahlung von hunderttausend Dollar.«
Allan antwortete, über die Geldfrage habe er noch gar nicht so nachgedacht, aber er wolle Julij Borissowitsch gerne ein wenig zur Hand gehen, wenn er seine Hilfe brauche, und danach sehe es ja wohl aus. Doch es wäre schön, wenn der Herr Marschall mit seiner Atombombe noch bis zum nächsten Tag warten könnte, denn in letzter Zeit sei er einfach ein bisschen viel herumgereist.
Marschall Berija erwiderte, er verstehe sehr gut, dass die Reise an Herrn Karlssons Kräften gezehrt habe, aber es würde gleich Abendessen mit Genosse Stalin geben. Anschließend dürfe Herr Karlsson sich in der feinsten Gästewohnung erholen, die der Kreml zu bieten habe.
Mit dem Essen hatte Genosse Stalin sich nicht lumpen lassen. Es gab Lachsrogen und Hering und Salzgurken und Fleischsalat und gegrilltes Gemüse und Borschtsch und Pelmeni und Blini mit Kaviar und Forelle und Rouladen und Lammkoteletts und Piroggen mit Eis. Dazu wurde Wein in verschiedenen Farben serviert, und natürlich Wodka. Und dann noch ein bisschen Wodka.
Am Tisch saßen Genosse Stalin, Allan Karlsson aus Yxhult, der Kernphysiker Julij Borissowitsch Popow, der Chef der sowjetischen Staatssicherheit Marschall Lawrentij Pawlowitsch Berija sowie ein kleiner, fast unsichtbarer junger Mann ohne Namen und ohne Gedeck am Tisch. Er war der Dolmetscher und existierte quasi gar nicht.
Stalin war von Anfang an blendender Laune. Auf Lawrentij Pawlowitsch war einfach immer Verlass! Stalin hatte zwar von dem Schnitzer mit Einstein gehört, aber das war ja schon wieder Geschichte. Einstein (also, der richtige, versteht sich!) hatte nur sein Gehirn, Karlsson hingegen hatte die exakten und detaillierten Kenntnisse!
Da konnte es natürlich nicht schaden, dass Karlsson obendrein so nett wirkte. Er hatte Stalin in Kurzform von seinem Hintergrund erzählt: Sein Vater hatte für den Sozialismus in Schweden gekämpft und war dann mit demselben Ziel nach Russland aufgebrochen. Wirklich lobenswert! Der Sohn wiederum hatte im spanischen Bürgerkrieg gekämpft, und Stalin wollte nicht unfein nachfragen, auf welcher Seite Allan gestanden habe. Danach war er nach Amerika gefahren (er musste wohl geflogen sein, nahm Stalin an), und da hatte es sich ergeben, dass er im Dienst der Alliierten gelandet war … und das war sicher zu entschuldigen. Stalin hatte in den letzten Kriegsjahren schließlich mehr oder weniger dasselbe getan.
Als gerade mal der Hauptgang aufgetragen war, konnte Stalin bereits fehlerfrei » Auf ex, Kameraden, hoppsassa fiderallala! « singen, wann immer sie die Gläser hoben. Allan lobte Stalins Singstimme, woraufhin dieser erzählte, dass er in seiner Jugend nicht nur im Chor gesungen habe, sondern auch auf Hochzeiten als Solist aufgetreten sei. Dann stand er auf und trat den Beweis an, indem er wild durch den Raum hüpfte und mit Armen und Beinen fuchtelte, während er ein Lied zum Besten gab, das in Allans Ohren fast … indisch klang …, aber schön war es!
Allan selbst konnte nicht singen, er konnte eigentlich überhaupt nichts, was von kulturellem Wert war, musste er sich eingestehen, aber die Stimmung verlangte, dass er noch etwas mehr bot als » Auf ex, Kameraden, hoppsassa fiderallala! «, und in der Eile wollte ihm nur ein Gedicht des Literaturnobelpreisträgers Verner von Heidenstam einfallen, das Allans Volksschullehrer die Kinder in der zweiten Klasse hatte auswendig lernen lassen.
Nachdem Stalin sich wieder gesetzt hatte, stand Allan also auf und begann:
Schweden, Schweden, Vaterland,
Hort unsrer Sehnsucht, Heimat auf Erden,
nun klingen die Glocken, wo Heere steckten in Brand,
wo aus Taten Sagen wurden,
doch Hand in Hand schwört immer noch dein Volk wie einst
den alten Treueeid
Als Achtjähriger hatte Allan überhaupt nicht begriffen, was er da las, und als er es so mit beachtlicher Inbrunst aufsagte, musste er sich eingestehen, dass er jetzt, fünfunddreißig Jahre später, immer noch nichts begriff. Doch er trug das Gedicht auf Schwedisch vor, und so saß der nicht existente Russisch-Englisch-Übersetzer nur stumm auf seinem Stuhl und existierte noch weniger als vorher.
Nachdem der Applaus verebbt war, erklärte Allan jedoch, dass er gerade Verner von Heidenstam rezitiert hatte. Vielleicht hätte er diese Information für sich behalten oder auch die Wahrheit ein bisschen abgewandelt, wenn er geahnt hätte, wie Genosse Stalin reagieren würde.
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