»Aber ich bin doch gar kein Physiker«, wandte Allan ein.
»Schon möglich, aber mein Auftraggeber sagt, dass Sie etwas können, was ich gerne können würde.«
»Aha. Was um alles in der Welt soll das denn sein?«
» Die Bombe , Herr Karlsson. Die Bombe .«
* * * *
Julij Borissowitsch und Allan Emmanuel waren sich auf Anhieb sympathisch. Dass jemand einfach so mit ihm mitkam, ohne zu wissen, wohin die Reise ging, zu wem und warum – das imponierte Borissowitsch über die Maßen und zeugte von einer Sorglosigkeit, die ihm völlig abging. Allan hingegen wusste es einfach zu schätzen, sich mal mit einem Menschen zu unterhalten, der ihm nicht seine politischen oder religiösen Überzeugungen aufschwatzen wollte.
Außerdem stellte sich schon bald heraus, dass sich sowohl Julij Borissowitsch als auch Allan Emmanuel unsäglich für Schnaps begeistern konnten, auch wenn Ersterer das Getränk »Wodka« nannte. Borissowitsch hatte tags zuvor die schwedische Variante kosten können, während er – um ehrlich zu sein – Allan Emmanuel im Speisesaal des Grand Hôtel im Auge behalten hatte. Erst fand Julij Borissowitsch den Klaren zu herb, da fehlte die russische Süße, aber nach ein paar Gläsern hatte er sich daran gewöhnt. Und noch zwei Gläser später kam ihm ein anerkennendes »Gar nicht so übel!« über die Lippen.
»Aber das hier ist natürlich besser«, meinte Julij Borissowitsch und schwenkte eine Literflasche Stolitschnaja, als sie zu zweit in der Offiziersmesse saßen. »Jetzt trinken wir jeder erst mal ein schönes Gläschen!«
»Sehr gut«, lobte Allan. »Seeluft macht immer so durstig.«
Schon nach dem ersten Glas hatte Allan durchgesetzt, dass sie sich anders anredeten. Denn Julij Borissowitsch jedes Mal, wenn er Julij Borissowitsch anreden wollte, mit Julij Borissowitsch anzureden, war auf die Dauer einfach zu viel. Und er wollte auch nicht Allan Emmanuel genannt werden, denn so hatte ihn keiner mehr genannt, seit ihn der Pfarrer in Yxhult getauft hatte.
»Ab jetzt bist du also Julij und ich bin Allan«, verkündete Allan. »Sonst steige ich sofort wieder aus diesem U-Boot.«
»Das lass mal schön bleiben, lieber Allan. Wir befinden uns nämlich gerade in zweihundert Metern Tiefe«, antwortete Julij. »Trink lieber noch ein Gläschen.«
Julij Borissowitsch Popow war lodernder Sozialist und wünschte sich nichts mehr, als für den Sowjetsozialismus arbeiten zu dürfen. Genosse Stalin konnte streng durchgreifen, wusste Julij zu berichten, aber wer dem System loyal und überzeugt diente, hatte nichts zu befürchten. Allan erwiderte, er habe nicht vor, irgendeinem System zu dienen, aber er könne Julij sicher den einen oder anderen Tipp geben, wenn er sich in der Atombombenproblematik festgefahren habe. Doch zuerst wollte er noch ein Glas von diesem Wodka, dessen Namen man nicht mal in nüchternem Zustand aussprechen konnte. Außerdem musste Julij ihm zusichern, den einmal eingeschlagenen Weg beizubehalten: kein Wort über Politik.
Julij bedankte sich aufrichtig für Allans Versprechen, ihm zu helfen, und gab ohne Umschweife zu, dass Marschall Berija, Julijs nächsthöherer Vorgesetzter, dem schwedischen Experten für seine Dienste einen einmaligen Betrag von hunderttausend amerikanischen Dollar anbot, sofern Allans Hilfe dann auch tatsächlich den Bau der Bombe gewährleistete.
»Das geht in Ordnung«, meinte Allan.
Der Inhalt der Flasche schwand langsam dahin, während die beiden sich über alles Mögliche zwischen Himmel und Erde unterhielten (außer Politik und Religion). Sie kamen auch ein wenig auf die Atombombenproblematik zu sprechen, und obwohl das Thema ja eigentlich erst in den nächsten Tagen anstand, konnte Allan in vereinfachter Form schon ein paar Tipps geben. Und dann noch ein paar.
»Hmm«, sagte Chefphysiker Julij Borissowitsch Popow. »Ich glaube, ich hab’s verstanden …«
»Aber ich nicht«, sagte Allan. »Erklär mir das mit der Oper doch noch mal, bitte. Ist das nicht einfach ein einziges großes Rumgekrähe?«
Julij lächelte, nahm einen ordentlichen Schluck Wodka, stand auf – und begann zu singen. In seinem Rausch gab er kein launiges Volkslied zum Besten, sondern die Arie Nessun dorma aus Puccinis Turandot .
»Ja, hau mir doch ab!«, sagte Allan, als Julij fertig gesungen hatte.
»Nessun dorma!«, sagte Julij andächtig. » Keiner schlafe! «
Ungeachtet etwaiger Schlafverbote waren Allan und Julij wenig später in ihren Kojen eingeschlummert. Als sie wieder aufwachten, lag das U-Boot bereits im Hafen von Leningrad. Dort wartete schon eine Limousine, die sie in den Kreml zu einer Unterredung mit Marschall Berija bringen sollte.
»Sankt Petersburg, Petrograd, Leningrad … Könnt ihr euch nicht endlich mal entscheiden?«, fragte Allan.
»Ich wünsche dir ebenfalls einen guten Morgen«, sagte Julij.
Die beiden setzten sich auf den Rücksitz der Humber-Pullman-Limousine und ließen sich von Leningrad nach Moskau fahren, was einen ganzen Tag in Anspruch nahm. Ein gläsernes Schiebefenster trennte den Fahrer von dem … Salon …, in dem Allan und sein neuer Freund saßen. Dort fand sich auch ein Kühlschrank mit Wasser, Erfrischungsgetränken und Alkohol, auf den die Fahrgäste gerade wunderbar verzichten konnten. Daneben stand eine Schale mit Geleehimbeeren und eine mit Pralinen aus echter Schokolade. Auto und Ausstattung hätten ein strahlendes Beispiel für die sowjetsozialistische Ingenieurskunst abgegeben, wäre nicht alles aus England importiert gewesen.
Julij erzählte Allan von seinem Hintergrund. So hatte er beim Nobelpreisträger Ernest Rutherford studiert, dem legendären Kernphysiker aus Neuseeland. Daher sprach er auch so gut Englisch. Allan berichtete dem immer verblüffteren Julij Borissowitsch von seinen Abenteuern in Spanien, Amerika, China, im Himalaya und im Iran.
»Und was ist dann mit dem anglikanischen Pfarrer passiert?«, wollte Julij wissen.
»Ich weiß nicht«, antwortete Allan. »Entweder hat er bald ganz Persien anglikanisiert, oder er ist inzwischen tot. Und in diesem Fall glaube ich eher nicht, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegt.«
»Klingt genauso, als würde man Stalin herausfordern«, meinte Julij aufrichtig. »Aber das wäre natürlich Verrat an der Revolution, daher wäre die Überlebenschance eher gering.«
Julijs Aufrichtigkeit schien an diesem Tag und in dieser Gesellschaft keine Grenzen zu kennen. Er erzählte ganz offenherzig, was er über Marschall Berija dachte, den Chef des Sicherheitsdienstes, der mit mehr Eile als Weile zum höchsten Verantwortlichen im Atombombenprojekt ernannt worden war. Um es kurz zu machen: Berija hatte überhaupt keine Scham im Leibe. Er missbrauchte Frauen und Kinder sexuell, und unerwünschte Elemente ließ er in Straflager deportieren, wenn er sie nicht gleich selbst umbrachte.
»Nur, dass wir uns recht verstehen«, sagte Julij. »Ein unerwünschtes Element muss natürlich so schnell wie möglich aussortiert werden, aber eben unerwünscht im Sinne der richtigen revolutionären Gründe. Wer dem Sozialismus nicht dienen will, muss weg! Aber wenn jemand Marschall Berija nicht dienen will … nein, Allan. Marschall Berija ist kein wahrer Repräsentant der Revolution. Aber das darf man natürlich Genosse Stalin nicht anlasten. Es war mir noch nicht vergönnt, ihn zu treffen, aber er hat die Verantwortung für ein ganzes Land, ja, für einen ganzen Kontinent. Wenn er bei dieser Aufgabe zufällig einem Marschall Berija mehr Verantwortung übertragen hat, als dieser tragen kann … dann ist das Genosse Stalins gutes Recht! Aber jetzt, mein lieber Allan, will ich dir etwas ganz Großartiges erzählen. Du und ich, wir haben heute Nachmittag nicht nur eine Audienz bei Marschall Berija, sondern auch bei Genosse Stalin höchstpersönlich ! Er will uns zum Abendessen einladen.«
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