»Darauf freue ich mich wirklich sehr«, beteuerte Allan. »Aber was machen wir bis dahin? Sollen wir uns etwa bis heute Abend von Geleehimbeeren ernähren?«
Julij sorgte dafür, dass das Auto einen Zwischenhalt in einer kleinen Stadt am Weg einlegte, wo er Allan ein paar belegte Brötchen organisierte. Dann ging die Fahrt weiter, und so auch das interessante Gespräch.
Zwischen zwei Bissen dachte Allan über diesen Marschall Berija nach, der – nach Julijs Beschreibung zu urteilen – ja Ähnlichkeiten mit dem so plötzlich dahingerafften Chef der Sicherheitspolizei in Teheran zu haben schien.
Julij wiederum versuchte aus seinem schwedischen Kollegen schlau zu werden. Der würde gleich mit Stalin zu Abend essen und hatte erklärt, dass er sich darauf freute. Doch Julij musste noch einmal nachfragen, ob der Mann sich nicht doch mehr auf das Abendessen freute als auf den Staatschef.
»Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen«, sagte Allan diplomatisch und lobte die Qualität der russischen Brötchen. »Aber, lieber Julij, darf ich dir auch noch ein, zwei Fragen stellen?«
»Natürlich, lieber Allan. Frag nur, ich werde dir nach bestem Wissen und Gewissen antworten.«
Allan gestand, dass er bei Julijs politischen Ausführungen nicht so genau zugehört hatte, denn Politik war einfach nicht das Thema, das ihn sonderlich interessierte. Außerdem wusste er noch genau, dass sein Kollege ihm am Vorabend versprochen hatte, nicht zu sehr in diese Richtung auszuschweifen.
Doch über Julijs Beschreibung der menschlichen Mängel des Marschalls war Allan gestolpert; er meinte, er habe in seinem Leben schon öfters Personen dieses Schlages getroffen. Und hier habe er irgendwie ein Verständnisproblem: Einerseits sei Marschall Berija ja völlig rücksichtslos, wenn Allan das richtig verstanden habe. Andererseits hatte er dafür gesorgt, dass es Allan an nichts fehlte, mit Limousine und allen Schikanen.
»Da stelle ich mir doch insgeheim die Frage, warum er mich nicht einfach hat entführen lassen, um mir mit Gewalt zu entlocken, was er wissen will«, meinte Allan. »Dann hätte er sich die Geleehimbeeren sparen können, die Pralinen, die hunderttausend Dollar und noch so einiges mehr.«
Julij fand, das Tragische an Allans Überlegung sei, dass sie tatsächlich nicht weit hergeholt war. Mehr als einmal hatte Marschall Berija – obendrein im Namen der Revolution – unschuldige Menschen gefoltert, das war Julij bekannt. Doch jetzt verhielt es sich so, sagte Julij und zauderte ein wenig, jetzt verhielt es sich eben so, sagte Julij und machte den Kühlschrank auf, um sich zur Stärkung ein Bier zu gönnen, auch wenn es noch nicht mal zwölf Uhr mittags war, jetzt verhielt es sich so … gestand Julij, dass der Marschall Berija vor Kurzem mit der eben beschriebenen Strategie auf die Nase gefallen war. Ein westlicher Experte war aus der Schweiz entführt und vor Marschall Berija gebracht worden, aber die Sache endete in einem Debakel. Allan müsse entschuldigen, aber Julij wolle nicht mehr erzählen, Allan solle ihm einfach glauben. Jedenfalls zog man aus diesem Misserfolg die Lehre, dass man sich die notwendigen nuklearen Kenntnisse kaufen musste, und zwar auf dem westlichen Markt, wo die Gesetze von Angebot und Nachfrage galten – so vulgär das leider war.
* * * *
Das sowjetische Atomwaffenprogramm begann mit einem Brief, den der Kernphysiker Georgij Nikolajewitsch Fljorow im April 1942 an den Genossen Stalin schrieb. Darin strich er heraus, dass man in den westlichen Medien keine Silbe über die Kernspaltungstechnik gelesen habe, die doch schon 1939 entwickelt worden war.
Genosse Stalin war freilich auch nicht auf den Kopf gefallen (auch wenn sein Vater ihm in seinen Wutanfällen gern Schläge auf denselben verpasst hatte). Genau wie Fljorow war er zu dem Schluss gekommen, dass ein drei Jahre währendes kompaktes Schweigen um die Fissionstechnik nur eines bedeuten konnte: Hier wurde wirklich etwas verheimlicht, zum Beispiel, dass jemand auf dem besten Wege war, eine Bombe zu bauen, die die Sowjetunion – um ein spezifisch russisches Bild zu benutzen – auf einen Schlag schachmatt setzen würde.
Man hatte also keine Zeit mehr zu verlieren, doch leider war da noch das lästige kleine Detail, dass Hitler und Nazideutschland gerade dabei waren, Teile der Sowjetunion zu besetzen – kurz gesagt, alle Gebiete westlich der Wolga, wozu auch Moskau gehörte –, schlimm genug –, aber eben auch Stalingrad !
Diese Attacke auf Stalingrad nahm Stalin gelinde gesagt persönlich. Es gingen zwar anderthalb Millionen Menschen dabei drauf, aber die Rote Armee trug den Sieg davon und begann ihrerseits Hitler zu bedrängen, bis sie irgendwann vor dem Führerbunker in Berlin stand.
Erst als die Deutschen langsam in die Knie gingen, hatte Stalin die Gewissheit, dass er und seine Nation eine Zukunft hatten, und ab diesem Moment kam endlich Schwung in die Kernspaltungsforschung, die modernere Variante der seit Langem ausgelaufenen Lebensversicherung, die unter dem Namen Ribbentrop-Molotow-Pakt firmiert hatte.
Doch eine Atombombe schraubt man auch nicht mal schnell an einem Vormittag zusammen, vor allem nicht, wenn die Bombe noch gar nicht erfunden ist. Die sowjetische Atombombenforschung lief schon ein paar Jahre ohne einen Durchbruch, als es zum ersten Mal richtig knallte – in New Mexico. Die Amerikaner hatten das Rennen gewonnen. Kein Wunder, sie waren ja auch viel früher losgerannt. Nach dem ersten Test in der Wüste von New Mexico knallte es noch zweimal, dann aber so richtig: einmal in Hiroshima, einmal in Nagasaki. Truman hatte Stalin eins ausgewischt und ihm deutlich gezeigt, wer hier das Sagen hatte. Man musste Stalin nicht besonders gut kennen, um zu wissen, dass er sich damit nicht abfinden würde.
»Lösen Sie das Problem«, befahl Genosse Stalin seinem Marschall Berija. »Oder, um mich ganz klar auszudrücken: Lösen Sie das Problem! «
Marschall Berija begriff, dass sich seine eigenen Physiker, Chemiker und Mathematiker festgefahren hatten, daran würde sich auch nichts ändern, wenn er die Hälfte von ihnen erst mal in den Gulag deportieren ließ. Außerdem gab es keine Anzeichen, dass seinen Agenten demnächst ein Einbruch ins Allerheiligste der Militärbasis in Los Alamos gelingen könnte. Die Baupläne der Amerikaner einfach zu stehlen, war momentan also nicht drin.
Die Lösung lag demnach darin, das Wissen zu importieren und die eigenen Ergebnisse entscheidend zu vervollständigen, die man im Forschungszentrum in der geheimen Stadt Sarow, ein paar Autostunden südöstlich von Moskau, bereits erzielt hatte. Da das Beste für Marschall Berija gerade gut genug war, befahl er dem Leiter der Spionageabteilung:
»Bringen Sie mir Albert Einstein.«
»Aber … Albert Einstein …« Der Mann war schockiert.
»Albert Einstein hat den schärfsten Verstand der Welt. Werden Sie jetzt wohl tun, was ich Ihnen sage, oder hegen Sie einen Todeswunsch?«, erkundigte sich Marschall Berija.
Der Leiter des Nachrichtendienstes hatte gerade eine neue Frau kennengelernt, die besser duftete als alles andere auf dieser Welt. Folglich hegte er definitiv keinen Todeswunsch. Doch bevor er den Marschall davon in Kenntnis setzen konnte, sagte dieser:
»Lösen Sie das Problem. Oder, um mich ganz klar auszudrücken: Lösen Sie das Problem! «
Nun konnte man einen Albert Einstein freilich nicht so einfach einsammeln und in einem handlichen Paket nach Moskau verfrachten. Zuerst musste man ihn überhaupt ausfindig machen. Er war in Deutschland geboren, zog dann aber nach Italien, von dort in die Schweiz und schließlich nach Amerika. Seitdem pendelte er aus den unterschiedlichsten Gründen zwischen den unterschiedlichsten Orten.
Momentan war sein Zuhause in New Jersey, doch nach Angaben der Agenten vor Ort schien das Haus leer. Außerdem wünschte Marschall Berija sowieso, dass die Entführung möglichst in Europa über die Bühne gehen sollte, denn Prominente aus den USA über den Atlantik zu schmuggeln, barg ja doch gewisse Schwierigkeiten.
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