Julij war zutiefst unglücklich. Nicht nur, weil er den netten Allan in die Sowjetunion gelockt hatte, wo ihn jetzt mit Sicherheit der Tod erwartete, sondern auch, weil Genosse Stalin solche charakterlichen Mängel gezeigt hatte! Der große Führer war intelligent, ein guter Tänzer, er verfügte über Allgemeinbildung und eine schöne Singstimme. Und dann war er völlig wahnsinnig! Allan hatte nur zufällig den falschen Dichter zitiert, und binnen Sekunden hatte sich ein gemütliches Abendessen in … eine Katastrophe verwandelt!
Unter Gefahr für sein eigenes Leben versuchte Julij vorsichtig, ganz vorsichtig mit Marschall Berija über Allans bevorstehende Hinrichtung zu reden und inwieweit es da nicht doch eine Alternative geben könnte.
Doch da hatte er sich im Marschall getäuscht. Der verging sich zwar an Frauen wie Kindern, ließ Schuldige wie Unschuldige foltern und hinrichten, tat zwar solche schrecklichen Dinge und noch viel mehr … aber so abstoßend seine Methoden auch sein mochten, er arbeitete zielstrebig immer nur für das Beste der Sowjetunion.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Julij Borissowitsch, Herr Karlsson wird nicht sterben. Jedenfalls noch nicht.«
Marschall Berija erklärte, dass er vorhabe, Allan Karlsson als Trumpf im Ärmel zu behalten, für den Fall, dass Julij Borissowitsch und seine Forscherkollegen weiter an der Entwicklung der Bombe scheiterten – was man langfristig nicht hinnehmen würde. Der Marschall war sehr zufrieden damit, wie geschickt er eine Drohung in diese Erklärung verpackt hatte.
* * * *
Während er auf seinen Prozess wartete, saß Allan also in einer der vielen Zellen der Geheimpolizei. Das Einzige, was in seinem Leben passierte – abgesehen von gar nichts – war, dass man ihm täglich ein Stück Brot, dreißig Gramm Zucker und drei warme Gerichte brachte (Gemüsesuppe, Gemüsesuppe und Gemüsesuppe).
Das Essen im Kreml war zwar besser gewesen als das im Gefängnis. Doch Allan fand, wenn auch die Suppe eher schmeckte, konnte er sie zumindest in Ruhe genießen, ohne dass sich jemand vor ihm aufbaute und ihn aus unerfindlichen Gründen anbrüllte.
Diese neue Diät dauerte sechs Tage, dann brachte das Spezialgremium des Geheimdienstes ihn zur Verhandlung. Der Gerichtssaal lag, ebenso wie Allans Zelle, im riesigen Gebäude des Geheimdienstes am Lubjanka-Platz, wenn auch ein paar Etagen höher. Man setzte Allan auf einen Stuhl vor dem Richterpult. Links vom Richter saß der Staatsanwalt, ein Mann mit mürrischem Gesicht, und rechts Allans Verteidiger, ebenfalls ein Mann mit mürrischem Gesicht.
Erst sagte der Staatsanwalt etwas auf Russisch, was Allan nicht verstand. Dann sagte der Anwalt etwas auf Russisch, was Allan auch nicht verstand. Daraufhin nickte der Richter scheinbar nachdenklich, bevor er zur Sicherheit noch einmal seinen Memo-Zettel auseinanderfaltete und mitteilte:
»Das Spezialgremium beschließt hiermit, Allan Emmanuel Karlsson, Bürger des schwedischen Königreiches, zu dreißig Jahren in einem Besserungsarbeitslager in Wladiwostok zu verurteilen, da er sich als gefährliches Element für die sowjetische sozialistische Gesellschaft erwiesen hat!«
Der Richter informierte den Verurteilten, er könne das Urteil anfechten, das wäre dann Angelegenheit des Obersten Sowjets, und die Verhandlung würde heute in drei Monaten stattfinden. Doch Allan Karlssons Anwalt teilte in Allan Karlssons Namen mit, dass er keine Revision einlegen würde. Im Gegenteil, er sei dankbar für das milde Urteil.
Zwar fragte man Allan nie, ob er wirklich dankbar war, aber das Urteil hatte zweifellos seine netten Seiten. Erstens behielt der Angeklagte sein Leben, und das kam selten vor, wenn man als gefährliches Element eingestuft worden war. Und zweitens landete er im Gulag in Wladiwostok, im absolut erträglichsten Klima Sibiriens. Dort war das Wetter nicht viel übler als zu Hause in Sörmland, während es weiter nördlich und in Richtung Binnenland durchaus fünfzig, sechzig oder gar siebzig Minusgrade geben konnte.
Allan hatte also gewissermaßen Glück gehabt. Nun wurde er mit ungefähr dreißig gerade verurteilten Dissidenten, die sein glückliches Los teilten, in einen zugigen Waggon verfrachtet. Diese Menschenladung hatte außerdem nicht weniger als drei Decken pro Kopf bekommen, da der Kernphysiker Julij Borissowitsch Popow den Wärter mit einem Bündel Rubel bestochen hatte. Der Mann fand es seltsam, dass ein so prominenter Bürger sich für einen Gulagtransport engagierte, und überlegte kurz, ob er den Vorfall seinen Vorgesetzten melden sollte. Doch dann fiel ihm wieder ein, dass er ja schon das Geld angenommen hatte, also war es wohl schlauer, weiter keinen Staub aufzuwirbeln.
Allan tat sich schwer, in diesem Gefangenentransport jemanden zu finden, mit dem er plaudern konnte, denn fast alle sprachen nur Russisch. Doch ein Mann um die fünfzig konnte Italienisch, und da Allan fließend Spanisch sprach, konnten sich die beiden einigermaßen verständigen. Jedenfalls verstand Allan so viel, dass der Mann zutiefst unglücklich war und sich am liebsten das Leben genommen hätte, wenn er nicht – nach seinen eigenen Worten – so eine erbärmliche Memme wäre. Allan tröstete ihn, so gut es ging, und meinte, dass sich die Dinge vielleicht sogar im Sinne des Mitreisenden entwickeln könnten, sobald der Zug ins sibirische Binnenland kam, denn drei Decken könnten sogar etwas knapp kalkuliert sein, wenn das Wetter entsprechend gelaunt war.
Der Italiener schniefte noch ein wenig, dann richtete er sich wieder auf und reichte Allan die Hand, um sich für seine Unterstützung zu bedanken. Er war übrigens gar kein echter Italiener, sondern Deutscher. Herbert hieß er. Sein Nachname sei nicht so wichtig, meinte er.
* * * *
Herbert Einstein hatte in seinem Leben kein Glück gehabt. Aufgrund eines administrativen Fehlers war er ebenso wie Allan zu dreißig Jahren Besserungsarbeitslager verurteilt worden, nicht zum Tode, nach dem er sich so sehnte.
Und er erfror auch nicht in der sibirischen Tundra, dafür sorgten die drei Decken. Außerdem war der Januar 1948 der mildeste seit Langem. Doch Allan versicherte Herbert, künftig werde er bestimmt andere Möglichkeiten finden. Immerhin waren sie ja auf dem Weg zu einem Arbeitslager, wenn es also anderweitig nicht klappen wollte, konnte er sich doch immer noch tot arbeiten , wie wäre es denn damit?
Seufzend meinte Herbert, dafür sei er wohl zu faul. Allerdings wusste er es nicht so genau, denn er hatte sein Lebtag noch nicht gearbeitet.
Darin sah Allan durchaus eine Chance. In einem Arbeitslager konnte man ganz sicher nicht faulenzen, da würden die Wachen einem garantiert gleich ein paar Kugeln hinterherschießen.
Herbert begrüßte den Gedanken einerseits, andererseits schauderte er auch. Ein paar Kugeln – tat so was nicht schrecklich weh?
* * * *
Allan Karlsson stellte keine großen Ansprüche ans Leben. Er wollte ein Bett, ausreichend Essen, eine Beschäftigung und in gewissen Abständen ein Gläschen Schnaps. Solange das gesichert war, konnte er fast alles ertragen. Insofern bot das Lager in Wladiwostok alles, was er sich wünschte, bis auf den Schnaps.
Der Hafen von Wladiwostok hatte damals einen offenen und einen geschlossenen Teil. Der geschlossene war von einem zwei Meter hohen Zaun umgeben, in dem das Zwangsarbeitslager des Gulag lag: vier Reihen mit je vierzig braunen Baracken. Der Zaun ging bis hinunter an den Kai. Die Schiffe, die von den Gefangenen beladen und entladen werden sollten, legten innerhalb der Umzäunung an, die anderen außerhalb. Die Lagerinsassen hatten mit fast jeder Art von Ladung zu tun, nur die ganz kleinen Fischerboote mit Besatzung mussten allein zurechtkommen, und der eine oder andere Öltanker, der einfach zu groß war.
Bis auf wenige Ausnahmen sahen die Tage im Lager in Wladiwostok immer gleich aus. Wecken um sechs Uhr, Frühstück um Viertel nach sechs. Die Arbeitsschicht dauerte zwölf Stunden, von halb sieben bis halb sieben, mit einer halbstündigen Mittagspause um zwölf. Im Anschluss an die Arbeit gab es Abendessen, danach wurden die Insassen bis zum nächsten Morgen eingesperrt.
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