»Ich bekomm Kopfweh, wenn ich da bloß dran denke. Und die Brust tut mir weh, wenn ich Luft hole, um zu erzählen, dass ich Kopfweh kriege, wenn ich dran denke. Im Moment würde ich fünfzig Millionen für eine Schmerztablette hinlegen.«
»Hier hast du zwei«, sagte Benny. »Aber die sind umsonst, keine Bange.«
* * * *
Kommissar Aronsson hatte einen hektischen Tag gehabt. Dank der Medien hagelte es Hinweise auf den Aufenthaltsort des mutmaßlichen Dreifachmörders und seiner drei Komplizen. Doch das Einzige, worauf Aronsson vertraute, war der Hinweis des Landpolizisten Gunnar Löwenlind in Jönköping. Der hatte sich gemeldet und berichtet, er habe auf der E4 südlich von Jönköping, auf der Höhe von Råslätt, einen gelben Bus gesehen, Modell Scania, dessen Kühler zerbeult war und der nur noch einen funktionierenden Scheinwerfer hatte. Hätte in dem Moment nicht sein Enkelsohn auf dem Kindersitz angefangen sich zu übergeben, hätte Löwenlind die Kollegen von der Verkehrspolizei angerufen, aber nun war es eben so gelaufen.
Kommissar Aronsson saß den zweiten Abend in Folge in der Pianobar des Hotels Royal Corner in Växjo und war abermals so unklug, seine Einschätzung der Situation vorzunehmen, als er schon einen gewissen Alkoholpegel hatte.
»Die E4 in nördlicher Richtung«, überlegte der Kommissar. »Seid ihr etwa auf dem Rückweg nach Sörmland? Oder wollt ihr euch in Stockholm verstecken?«
Dann beschloss er, am nächsten Tag auszuchecken und nach Hause zu fahren, in seine deprimierende Dreizimmerwohnung im Stadtzentrum von Eskilstuna. Der Schalterbeamte Ronny Hulth in Malmköping hatte zumindest eine Katze, die er in den Arm nehmen konnte. Göran Aronsson hatte nichts, dachte Göran Aronsson und trank seinen letzten Longdrink aus.
18. KAPITEL 1953
Nach fünf Jahren und drei Wochen hatte Allan natürlich ganz gut Russisch gelernt, aber auch sein Chinesisch aufgefrischt. Im Hafen war ja immer viel Betrieb, und Allan unterhielt Kontakte zu mehreren Matrosen, die regelmäßig nach Wladiwostok kamen und ihn über die neuesten Geschehnisse auf der Weltbühne auf dem Laufenden hielten.
Geschehen war unter anderem, dass die Sowjetunion anderthalb Jahre nach Allans Treffen mit Stalin, Berija und dem sympathischen Julij Borissowitsch ihre eigene Atombombe gezündet hatte. Im Westen vermutete man Spionage, denn die Bombe schien nach genau demselben Prinzip gebaut worden zu sein wie die amerikanische Trinity-Bombe. Allan jedoch versuchte sich zu erinnern, wie viele Hinweise Julij eigentlich schon bekommen hatte, als sie im U-Boot beieinandergesessen und den Wodka direkt aus der Flasche getrunken hatten.
»Ich glaube, du beherrschst die Kunst, zu saufen und gleichzeitig zuzuhören, mein lieber Julij Borissowitsch«, meinte er.
Ansonsten hatte Allan aufgeschnappt, dass die USA, Frankreich und Großbritannien ihre Besatzungszonen zusammengelegt und eine deutsche Bundesrepublik geschaffen hatten. Darauf reagierte der erboste Stalin mit der Gründung eines eigenen Deutschland. So hatten Ost und West jeweils ein eigenes Deutschland, was Allan ganz praktisch vorkam.
Außerdem war der schwedische König gestorben, das konnte Allan einer britischen Tageszeitung entnehmen, die aus ungeklärten Gründen in die Hände eines chinesischen Seemanns geraten war. Dieser dachte gleich an den schwedischen Gefangenen in Wladiwostok, mit dem er immer so gerne plauderte, und nahm ihm die Zeitung mit. Der König war zwar schon seit einem Jahr tot, als Allan davon erfuhr, aber das machte ja nichts. Es war ja auch sofort wieder ein neuer König eingesetzt worden, das Land war also versorgt.
Ansonsten redeten die Seeleute im Hafen vor allem über den Krieg in Korea. Kein Wunder, Korea war ja gerade mal zweihundert Kilometer entfernt.
Wenn Allan das richtig verstanden hatte, war ungefähr Folgendes passiert:
Die koreanische Halbinsel blieb mehr oder weniger übrig, als der Weltkrieg zu Ende war. Stalin und Truman besetzten brüderlich jeweils einen Teil und bestimmten den achtunddreißigsten Breitengrad zur Grenze zwischen Nord und Süd. Danach wurde ewig verhandelt, inwiefern Korea sich selbst regieren dürfe, doch da die politischen Anschauungen von Stalin und Truman nicht ganz übereinstimmten (eigentlich überhaupt nicht), endete es ungefähr so wie mit Deutschland. Zuerst schufen die USA ein Südkorea, woraufhin die Sowjetunion ihren Teil Nordkorea taufte. Und dann überließen die USA und die Sowjetunion die Koreaner sich selbst.
Das lief allerdings nicht ganz glatt. Sowohl Kim Il-sung im Norden als auch Rhee Syng-man im Süden fanden, dass sie die besseren Voraussetzungen dafür mitbrachten, die gesamte Halbinsel zu regieren. Und über diese Frage entbrannte gleich wieder ein Krieg.
Doch drei Jahre und ungefähr vier Millionen Tote später war immer noch nichts passiert (außer, dass eben Menschen gestorben waren). Der Norden war immer noch der Norden, der Süden war der Süden. Getrennt durch den achtunddreißigsten Breitengrad.
Was den Schnaps anging, also den Hauptgrund, aus dem Gulag zu fliehen, lag es natürlich nahe, sich auf eines der vielen Schiffe zu stehlen, die im Hafen von Wladiwostok anlegten und ausliefen. Doch im Laufe der Jahre hatten sich mindestens sieben von Allans Freunden aus der Baracke etwas Ähnliches vorgenommen, und alle sieben waren entdeckt und hingerichtet worden. Dann trauerten die Kameraden in den Baracken – am meisten Herbert Einstein, wie es schien. Nur Allan begriff, was Herbert bedauerte, nämlich dass es wieder nicht ihn getroffen hatte.
Wenn man ein Schiff entern wollte, war das erste Problem schon mal, dass jeder Sträfling seine typische schwarzweiße Lagerkleidung trug. Damit war es unmöglich, in der Menge unterzutauchen. Obendrein konnte man so eine Gangway ja leicht bewachen, und jede Kiste, die mit dem Kran auf ein Schiff gehievt wurde, wurde zuvor von gut ausgebildeten Wachhunden beschnüffelt.
Dazu kam, dass es gar nicht so einfach war, ein Schiff zu finden, auf dem man Allan ohne Weiteres aufgenommen hätte. Viele Transporte gingen nach Festlandchina, andere nach Wonsan an der nordkoreanischen Ostküste. Sollte ein chinesischer oder nordkoreanischer Kapitän einen Gulagsträfling in seinem Frachtraum entdecken, gab es durchaus Grund zu der Annahme, dass er entweder beidrehen oder ihn einfach über Bord werfen würde (weniger Bürokratie, gleiches Ergebnis).
Nein, der Seeweg war schwierig, wenn man fliehen wollte – und das wollte man ja. Der Landweg schien an und für sich nicht viel einfacher. Nordwärts ins sibirische Binnenland und in die unmenschliche Kälte zu marschieren, war natürlich auch keine gute Idee. Und nach China im Westen ebenso wenig.
Blieb nur noch der Süden, da lag Südkorea, wo man sich sicher eines Lagerflüchtlings annehmen würde, der obendrein ein mutmaßlicher Feind des Kommunismus war. Zu schade, dass man davor erst noch Nordkorea durchqueren musste.
Noch bevor Allan sich einen einigermaßen brauchbaren Plan für eine Flucht Richtung Süden zurechtbasteln konnte, war ihm klar, dass er unterwegs auf mehr als ein Hindernis treffen würde. Aber es lohnte sich nicht, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, denn dann würde es nie mehr was werden mit dem Schnaps.
Sollte er es allein versuchen oder zusammen mit jemandem?
Das müsste dann Herbert sein, der Unselige. Allan glaubte, dass Herbert ihm bei den Vorbereitungen durchaus von Nutzen sein könnte. Außerdem war es sicher lustiger, zu zweit zu fliehen statt ganz allein.
»Fliehen?«, sagte Herbert Einstein. »Auf dem Landweg? Nach Südkorea? Via Nordkorea?«
»So ungefähr«, sagte Allan. »Das ist jedenfalls meine Arbeitshypothese.«
»Die Chance, dass wir durchkommen, geht doch wahrscheinlich gegen null«, sagte Herbert.
»Genau«, sagte Allan.
»Ich bin dabei!«, sagte Herbert.
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