Die einzigen Ausnahmen hießen Allan und Herbert. Ihnen gelang es, sich auf einen Hügel südwestlich von Wladiwostok zu retten. Dort rasteten sie kurz und betrachteten das Bild der Verwüstung, das sich ihren Augen bot.
»Diese Leuchtrakete hatte ja ganz schön Pfeffer«, meinte Herbert.
»Eine Atombombe hätte kaum gründlichere Arbeit leisten können«, meinte Allan.
»Was machen wir denn jetzt?«, wollte Herbert wissen. Ihm war so kalt, dass er sich fast nach dem Lager zurücksehnte, das nicht mehr stand.
»Jetzt, mein Freund, machen wir uns auf nach Nordkorea«, sagte Allan. »Da es weit und breit keine Autos gibt, müssen wir wohl zu Fuß gehen. Aber egal, das hält schön warm.«
* * * *
Kirill Afanassjewitsch Merezkow war einer der fähigsten und höchstdekorierten Kommandeure der Roten Armee. Unter anderem war er »Held der Sowjetunion« und nicht weniger als siebenmal mit dem Lenin-Orden ausgezeichnet worden.
Als Befehlshaber der vierten Armee kämpfte er bei Leningrad erfolgreich gegen die Deutschen, und nach neunhundert schrecklichen Tagen konnte die Belagerung der Stadt beendet werden. Kein Wunder, dass Merezkow zum »Marschall der Sowjetunion« ernannt wurde, zusätzlich zu all den Orden, Titeln und Medaillen, die er ansonsten bekommen hatte.
Als Hitler zurückgedrängt war, zog der Marschall Richtung Osten, neuntausendsechshundert Kilometer per Zug. Man brauchte ihn an der ersten Fernostfront, um die Japaner aus der Mandschurei zu verjagen. Man war nicht überrascht, als ihm auch das gelang.
Dann endete der Weltkrieg, und Merezkow war am Ende seiner Kräfte. Da in Moskau niemand auf ihn wartete, blieb er einfach im Osten. Dort landete er hinter einem Schreibtisch der Armee in Wladiwostok. Ein schöner Schreibtisch. Echt Teak.
Als der Winter 1953 sich dem Ende zuneigte, war Merezkow fünfundsechzig und saß immer noch hinter seinem Tisch. Von dort verwaltete er die sowjetische Nichtteilnahme am Koreakrieg. Sowohl Merezkow als auch Genosse Stalin hielten es für strategisch wichtig, dass die Sowjetunion im Moment nicht unmittelbar gegen die amerikanischen Soldaten kämpfte. Zwar verfügten jetzt beide über die Bombe, aber die Amerikaner waren ihnen ein Stück voraus. Alles hatte seine Zeit, jetzt galt es, nicht zu provozieren – was allerdings nichts daran änderte, dass der Koreakrieg gewonnen werden musste.
Doch Merezkow erlaubte sich, es zwischendurch auch mal ruhig angehen zu lassen. Unter anderem hatte er eine Jagdhütte bei Kraskino, ein paar Fahrtstunden südlich von Wladiwostok. Dort fuhr er hin, sooft er konnte, gerade im Winter. Und am allerliebsten allein. Abgesehen von seinem Adjutanten, denn Marschälle fahren ja nicht selbst Auto, wie würde das denn aussehen?
Marschall Merezkow und sein Adjutant hatten noch fast eine ganze Stunde Fahrt nach Wladiwostok vor sich, als sie von der kurvenreichen Küstenstraße aus zum ersten Mal die schwarze Rauchsäule im Norden entdeckten. Was war denn da passiert? Brannte da etwas?
Sie waren zu weit entfernt, als dass es sich gelohnt hätte, das Fernglas aus dem Kofferraum des standesgemäßen Autos herauszuholen. Stattdessen befahl Merezkow seinem Fahrer, Vollgas zu geben und innerhalb der nächsten zwanzig Minuten eine Stelle mit klarer Sicht auf die Bucht ausfindig zu machen, an der sie halten konnten. Was war dort bloß passiert? Da brannte auf jeden Fall etwas …
Allan und Herbert marschierten bereits seit einer geraumen Weile an der Landstraße entlang, als sich auf einmal ein eleganter khakigrüner Pobeda von Süden näherte. Doch der Wagen verlangsamte und blieb in einer Entfernung von knapp fünfzig Metern stehen. Ihm entstiegen ein ordenbehangener Offizier und sein Adjutant. Der Adjutant holte das Fernglas des Ordenbehangenen aus dem Gepäck, woraufhin die beiden den Wagen verließen, um sich einen günstigen Aussichtspunkt über die Bucht zu suchen, an der bis vor Kurzem noch Wladiwostok gelegen hatte.
Daher war es kinderleicht für Allan und Herbert, sich zum Auto zu schleichen und die Pistole des Ordenbehangenen und das Maschinengewehr des Adjutanten zu entwenden, um die beiden anschließend darauf aufmerksam zu machen, dass sie dummerweise gerade in eine etwas unangenehme Situation geraten waren. Oder, wie Allan es ausdrückte:
»Meine Herren, darf ich Sie höflichst ersuchen, Ihre Kleidung abzulegen?«
Marschall Merezkow war empört. So behandelte man keinen Marschall der Sowjetunion, nicht einmal, wenn man Lagerhäftling war. Ob die Herren etwa meinten, er – Marschall Kirill Afanassjewitsch Merezkow – solle in Unterhosen nach Wladiwostok marschieren? Allan erwiderte, das dürfte schwer werden, da Wladiwostok gerade bis auf die Grundmauern abbrenne, aber ansonsten, doch, ansonsten hätten sein Freund und er sich das tatsächlich in etwa so vorgestellt. Die Herren konnten natürlich zum Tausch ein paar schwarzweiße Sträflingsanzüge haben. Außerdem würde es sowieso immer wärmer werden, je näher sie an Wladiwostok kamen – oder wie auch immer man die Ruinen unter der Rauchwolke da unten nennen mochte.
Daraufhin schlüpften Allan und Herbert in die gestohlenen Uniformen und ließen ihre Sträflingskleidung auf dem Boden liegen. Allan hielt es für das Sicherste, wenn er den Wagen fuhr, also würde er den Adjutanten spielen und Herbert den Marschall. Der nahm also auf dem Beifahrersitz Platz, während Allan sich hinters Steuer setzte. Zum Abschied rief er dem Marschall zu, er solle doch nicht so wütend sein, denn damit sei keinem geholfen. Außerdem war ja bald Frühling, und der Frühling in Wladiwostok … Ach nein, das wohl doch nicht. Trotzdem empfahl Allan dem Marschall, positiv zu denken, fügte aber hinzu, das müsse der Marschall freilich selbst entscheiden. Wenn er unbedingt in Unterhosen dorthin laufen und die Dinge möglichst schwarz sehen wolle, werde er ihn selbstverständlich nicht davon abhalten.
»Also, adieu, Herr Marschall. Und Herr Adjutant.«
Der Marschall antwortete nicht, er starrte Allan nur weiter wütend an, während der den Pobeda wendete. Und dann fuhren Herbert und er Richtung Süden.
Nächster Halt Nordkorea.
* * * *
Der Grenzübertritt von der Sowjetunion nach Nordkorea verlief problemlos und rasch. Zuerst schlugen die russischen Grenzbeamten die Hacken zusammen und salutierten stramm, dann taten die Nordkoreaner es ihnen nach. Ohne dass ein Wort gewechselt wurde, öffneten sich die Schlagbäume für den sowjetischen Marschall (Herbert) und seinen Adjutanten (Allan). Der besonders ergebene der beiden nordkoreanischen Beamten bekam ganz glänzende Augen, als ihm aufging, wie sehr sich diese Sowjetrussen doch persönlich engagierten. Korea konnte einfach keinen besseren Nachbarn haben als die sozialistischen Sowjetrepubliken. Der Marschall war bestimmt auf dem Weg nach Wonsan, um dafür zu sorgen, dass die Materiallieferungen aus Wladiwostok eintrafen und ordnungsgemäß weitergeleitet wurden.
Doch dem war nicht so. Dieser Marschall verschwendete keinen Gedanken an Nordkoreas Wohl und Wehe. Man kann nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob er wusste, in welchem Land er sich gerade befand. Er war vollauf damit beschäftigt herauszufinden, wie man eigentlich dieses Handschuhfach aufkriegte.
Von den Matrosen im Hafen von Wladiwostok hatte Allan aufgeschnappt, dass der Koreakrieg gerade zum Stillstand gekommen war und die Parteien sich jeweils auf ihre Seite des achtunddreißigsten Breitengrades zurückgezogen hatten. Das hatte er auch Herbert vermitteln müssen, der sich den Übertritt von Nord- nach Südkorea offensichtlich so vorgestellt hatte, dass sie einmal Anlauf nahmen und hinübersprangen – vorausgesetzt, dieser Breitengrad war nicht allzu breit. Es bestünde zwar das Risiko, meinte er, dass man noch im Sprung erschossen werde, aber das wäre ja auch kein Weltuntergang.
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