Ich trat zu ihr und lächelte sie an.
»Rociíto, Sie sind hübscher denn je«, schwindelte ich.
Sie hatte sich in ihre prächtigste Gala geworfen, und man erkannte die Arbeit des besten Friseursalons der Calle Conde del Asalto, und doch hatte ich den Eindruck, sie sei noch nie so traurig gewesen wie an diesem Abend.
»Geht es Ihnen gut, Rociíto?«
»Schauen Sie ihn sich an, bis auf die Knochen abgemagert und kriegt doch nicht genug vom Tanzen.«
Ihre Augen hingen an Fermín, und da wurde mir klar, dass sie in ihm nach wie vor den Helden sah, der sie aus den Klauen eines Bonsaimackers befreit hatte und vermutlich nach zwanzig Jahren Straßenarbeit der einzige Mann war, den kennenzulernen sich gelohnt hatte.
»Don Daniel, ich wollte es Fermín nicht sagen, aber ich geh morgen nicht zur Hochzeit.«
»Was sagst du da, Rociíto? Fermín hat dir einen Ehrenplatz reserviert…«
Sie schaute zu Boden.
»Ich weiß, aber ich kann nicht hingehen.«
»Warum denn?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort ahnte.
»Weil es mir sehr weh tun würde, und ich will, dass Señor Fermín glücklich ist mit seiner Señora.«
Sie hatte zu weinen begonnen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und so umarmte ich sie.
»Ich habe ihn immer geliebt, wissen Sie. Seit ich ihn kennengelernt habe. Ich weiß schon, dass ich nicht die Frau bin für ihn, dass er mich sieht als…, nun, eben, als die Rociíto.«
»Fermín hat dich sehr lieb, das darfst du nie vergessen.«
Sie entzog sich mir und trocknete verschämt die Tränen ab. Dann lächelte sie und zuckte die Schultern.
»Verzeihen Sie, ich bin ein Dummchen, und wenn ich zwei Tropfen trinke, weiß ich nicht mehr, was ich sage.«
»Das macht doch nichts.«
Ich reichte ihr mein Glas Wasser, und sie ergriff es.
»Eines Tages merkt man, dass die Jugend vorbei ist und der Zug abgefahren, wissen Sie.«
»Es gibt immer wieder Züge. Immer.«
Die Rociíto nickte.
»Aus diesem Grund gehe ich nicht zur Hochzeit, Don Daniel. Vor einigen Monaten schon habe ich einen Herrn aus Reus kennengelernt. Ein guter Mensch, Witwer. Ein guter Vater. Er betreibt einen Schrotthandel, und immer wenn er nach Barcelona kommt, besucht er mich. Er hat um meine Hand angehalten. Keiner von uns beiden macht sich Illusionen, wissen Sie. Allein alt zu werden ist sehr hart, und ich weiß, dass ich nicht mehr den Körper habe, um weiter auf der Straße zu arbeiten. Jaumet, der Herr aus Reus, hat mich gebeten, mit ihm zu verreisen. Die Kinder sind bereits ausgeflogen, und er hat sein ganzes Leben lang gearbeitet. Er sagt, er will noch etwas von der Welt sehen, bevor er abtritt, und hat mich gebeten mitzukommen. Als seine Frau, nicht als Wegwerfhure. Das Schiff fährt morgen sehr früh. Jaumet sagt, ein Schiffskapitän hat die Befugnis, auf hoher See zu trauen, und sonst suchen wir uns in irgendeinem Hafen, den wir anlaufen, einen Geistlichen.«
»Weiß es Fermín?«
Als hätte er uns aus der Ferne gehört, blieb Fermín auf der Tanzfläche stehen und schaute zu uns rüber. Er streckte die Arme nach der Rociíto aus und setzte dieses liebebedürftige Trägheitsgesicht auf, mit dem er so viel Erfolg gehabt hatte. Die Rociíto lachte, schüttelte leise den Kopf, und bevor sie für ihren letzten Bolero zu der Liebe ihres Lebens auf die Tanzfläche ging, drehte sie sich um und sagte:
»Passen Sie gut auf ihn auf, Daniel. Fermín gibt es nur einen.«
Das Orchester hatte aufgehört zu spielen, und die Tanzfläche öffnete sich, um die Rociíto durchzulassen. Fermín nahm sie bei den Händen. Langsam ging in der Paloma das Licht aus; zwischen den Schatten wuchs ein Scheinwerfer und zeichnete mit seinem Strahl zu Füßen des Paars einen dunstigen Lichtkreis. Alle anderen traten zur Seite, und langsam setzte das Orchester mit dem traurigsten je komponierten Bolero ein. Fermín umschlang die Taille der Rociíto. Sich in die Augen schauend, fern von der Welt, tanzten die Geliebten dieses für immer verlorenen Barcelona zum letzten Mal in enger Umarmung. Als die Musik verklang, küsste Fermín sie auf die Lippen, und die Rociíto streichelte in Tränen aufgelöst seine Wange und ging langsam auf den Ausgang zu, ohne sich zu verabschieden.
Das Orchester fing diesen Moment mit einer Guaracha auf, und Oswaldo Darío de Mortenssen, den das Liebesbriefeschreiben zum Melancholie-Enzyklopädiker gemacht hatte, ermunterte die Gäste, wieder die Tanzfläche einzunehmen, als wäre nichts geschehen. Fermín kam ein wenig niedergeschlagen zur Theke und setzte sich neben mich auf einen Hocker.
»Geht es Ihnen gut, Fermín?«
Er nickte schwach.
»Ich glaube, ein wenig frische Luft würde mir guttun, Daniel.«
»Warten Sie hier auf mich, ich hole unsere Mäntel.«
Wir spazierten durch die Calle Tallers auf die Ramblas zu, da erblickten wir etwa fünfzig Meter vor uns eine vertraute Gestalt, die langsam einherschritt.
»Aber Daniel, das ist doch Ihr Vater!«
»Wie er leibt und lebt. Stockbesoffen.«
»Das Letzte, was ich auf dieser Welt zu sehen erwartet hätte«, sagte Fermín.
»Und ich erst!«
Wir beschleunigten unsere Schritte, bis wir ihn eingeholt hatten. Als er uns erblickte, lächelte er uns aus glasigen Äuglein an.
»Wie spät ist es denn?«, fragte er.
»Sehr spät.«
»Das habe ich mir eben auch gedacht. Hören Sie, Fermín, ein fabelhaftes Fest. Und die Mädchen! Da gab es ja ein paar Hintern, die eine Kriegserklärung wert wären.«
Ich verdrehte die Augen. Fermín hakte meinen Vater unter und lenkte seine Schritte.
»Señor Sempere, ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so etwas zu Ihnen sagen würde, aber Sie leiden an einer akuten Alkoholvergiftung und sagen besser nichts, was Sie später bereuen könnten.«
Mein Vater nickte, plötzlich beschämt.
»Das ist dieser verdammte Barceló, der mir weiß Gott was eingeflößt hat, und ich bin das Trinken nicht gewohnt…«
»Macht nichts. Jetzt schlucken Sie ein Natron, und dann schlafen Sie den Rausch aus. Morgen sind Sie wieder frisch wie eine Rose, und keiner erinnert sich mehr dran.«
»Ich glaube, ich muss mich übergeben.«
Wir hielten ihn fest, während der Ärmste alles von sich gab, was er getrunken hatte. Ich stützte seine von kaltem Schweiß bedeckte Stirn, und als klar war, dass außer Galle nichts mehr in ihm steckte, setzten wir ihn einen Augenblick auf die Stufen eines Hauseingangs.
»Atmen Sie tief und langsam ein und aus, Señor Sempere.«
Mein Vater nickte mit geschlossenen Augen. Fermín und ich wechselten einen Blick.
»Sagen Sie, wollten Sie nicht bald heiraten?«
»Morgen Nachmittag.«
»Na, dann meinen herzlichsten Glückwunsch.«
»Danke, Señor Sempere. Was meinen Sie, sind Sie so weit in der Lage, ganz allmählich nach Hause zu gehen?«
Mein Vater nickte.
»Los, nur Mut, es kann nichts mehr kommen.«
Ein frischer, trockener Wind wehte und weckte meinen Vater. Als wir zehn Minuten später in die Calle Santa Ana einbogen, war er wieder bei klarem Verstand und verzehrte sich beinahe vor Scham. Wahrscheinlich hatte er sich in seinem ganzen Leben nie betrunken.
»Davon bitte kein Wort zu niemandem«, flehte er uns an.
Etwa zwanzig Meter von der Buchhandlung entfernt sah ich jemanden im Hauseingang sitzen. Die große Lampe der Casa Jorba an der Ecke zur Puerta del Ángel zeichnete die Gestalt eines jungen Mädchens mit einem Koffer auf den Knien. Als sie uns sah, stand sie auf.
»Wir haben Gesellschaft«, murmelte Fermín.
Mein Vater hatte sie als Erster gesehen. Ich bemerkte etwas Seltsames in seinem Gesicht, eine angespannte Ruhe, die ihn befiel, als wäre er schlagartig wieder nüchtern. Er ging auf das junge Mädchen zu, blieb aber unversehens wie angewurzelt stehen.
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