Valls schloss die Augen und atmete tief.
»Herr Direktor…«
Ohne irgendeine Erklärung abzugeben, lief Valls los und blieb erst vor Zelle Nr. 13 stehen. Als er ihn erblickte, erwachte der Wärter aus seiner Benommenheit und grüßte militärisch.
»Exzellenz, was…«
»Mach auf. Schnell.«
Der Wärter schloss die Zelle auf, und Valls stürmte hinein. An der Pritsche packte er den liegenden Körper an der Schulter und riss ihn herum. Jetzt lag Salgado auf dem Rücken. Valls beugte sich über ihn und kontrollierte die Atmung. Dann wandte er sich an den Wärter, der ihn erschrocken anschaute.
»Wo ist die Leiche?«
»Die Leute vom Beerdigungsinstitut haben sie weggeschafft…«
Valls versetzte ihm eine Ohrfeige, die ihn zu Boden warf. Zwei Wachen hatten sich auf dem Gang eingefunden und warteten auf Anweisungen des Direktors.
»Ich will ihn lebend«, sagte er zu ihnen.
Die beiden nickten und eilten davon. Valls lehnte sich ans Gitter von Martíns und Dr. Sanahujas Zelle. Der Wärter, der wieder aufgestanden war und sich nicht zu atmen traute, glaubte zu sehen, dass der Direktor lachte.
»Das war wohl Ihre Idee, Martín, nicht wahr?«, fragte er schließlich.
Er deutete eine Verbeugung an und klatschte dann langsam Beifall, während er durch den Gang entschritt.
Der Lastwagen kämpfte sich im Schneckentempo über die letzten Meter dieser Piste. Zwei Minuten Schlaglöcher und Lastwagenächzen später wurde der Motor abgestellt. Der Gestank, der durch den Sackstoff zu Fermín drang, war unbeschreiblich. Die beiden Totengräber kamen zur Rückseite des Lastwagens. Er hörte den Hebel des Verschlusses aufschnappen — dann wurde der Sack mit einem heftigen Ruck ins Leere geworfen.
Fermín schlug seitlich auf dem Boden auf. Dumpfer Schmerz durchzog seine Schulter. Bevor er reagieren konnte, hoben die Totengräber den Sack wieder vom Boden auf, fassten je an einem Ende an und trugen ihn einige Meter den Hang hinauf. Dann ließen sie ihn erneut fallen, und Fermín hörte, wie sich der eine niederkniete und den Sack aufzuknoten begann. Die Schritte des anderen entfernten sich einige Meter, und ein metallisches Geräusch war zu vernehmen. Fermín versuchte, Luft zu holen, doch der Pestgestank verbrannte ihm die Kehle. Er schloss die Augen. Über sein Gesicht strich kalte Luft. Der Totengräber ergriff den Sack am verschlossenen Ende und zerrte kräftig. Fermíns Körper rollte auf Steine und durch Pfützen.
»Los, auf drei«, sagte einer der beiden.
Vier Hände packten ihn an Knöcheln und Handgelenken. Krampfhaft hielt er den Atem an.
»Sag mal, der schwitzt doch nicht etwa, oder?«
»Wie soll denn ein Toter schwitzen, du Blödmann? Das kommt von der Pfütze. Los, eins, zwei und…«
Drei. Fermín wurde in der Luft geschaukelt — einen Augenblick später flog er und überließ sich seinem Schicksal. In voller Parabel öffnete er die Augen und konnte vor dem Aufprall gerade noch sehen, dass er auf einen im Berg ausgehobenen Graben zustürzte. Im Mondlicht war nichts weiter zu erkennen als etwas Blasses, das den Boden bedeckte. Er war sich sicher, dass es sich um Steine handelte, und gelassen beschloss er in der halben Sekunde, die ihm noch blieb, dass es ihm nichts ausmachte zu sterben.
Es war eine weiche Landung. Er war auf etwas Molliges, Feuchtes gefallen. Fünf Meter weiter oben hielt einer der Totengräber eine Schaufel in der Hand und entleerte sie in die Luft. Weißlicher Staub verstreute sich wie in einem glänzenden Dunst, der seiner Haut erst schmeichelte und sie eine Sekunde später aufzuzehren begann wie eine Säure. Die beiden Totengräber machten sich davon, und Fermín stand auf. Er befand sich in einem offenen Graben voller mit Ätzkalk bedeckter Leichen. Er versuchte, das Feuerpulver abzuschütteln, und schaffte sich, die Hände in die Erde grabend und den Schmerz ignorierend, zwischen den Leichen zum Erdwall hinauf. Oben angelangt, konnte er sich zu einer schmutzigen Pfütze schleppen und sich vom Kalk reinigen. Als er aufstand, sah er gerade noch die Schlusslichter des Lastwagens in der Nacht verschwinden. Einen Moment lang drehte er sich um. Der Graben zu seinen Füßen zog sich dahin wie ein Ozean ineinander verflochtener Leichen. Die Übelkeit peitschte ihn auf die Knie, und er erbrach Galle und Blut auf seine Hände. Der Verwesungsgestank und die Panik ließen ihn kaum atmen. Da hörte er in der Ferne ein Brummen. Als er aufschaute, sah er die Scheinwerfer von zwei Autos näher kommen. Er rannte zur Bergflanke und gelangte zu einem Stück Wiese, von wo aus er zu Füßen des Hügels das Meer und an der Spitze des Wellenbrechers den Hafenleuchtturm sehen konnte.
Oben auf dem Montjuïc erhob sich das Kastell zwischen schwarzen Wolken, die träge dahinzogen und den Mond verhüllten. Der Motorenlärm kam näher. Ohne es sich zweimal zu überlegen, stürzte Fermín den Hang hinunter, schlug hin und kullerte zwischen Stämmen, Stöcken und Steinen dahin, die ihm die Haut in Fetzen vom Leib prügelten. Er spürte keinen Schmerz und keine Angst und keine Müdigkeit mehr, bis er die Straße erreichte, wo er auf die Hangars des Hafens zuzulaufen begann. Er rannte pausen- und atemlos, ohne Gefühl für die Zeit und für seinen Körper, der eine einzige Wunde war.
Der Morgen dämmerte, als er zum endlosen Hüttenlabyrinth am Strand des Somorrostro-Viertels gelangte. Vom Meer kroch der Frühdunst heran und schlängelte sich zwischen den Dächern durch. Fermín betrat die Gässchen und Tunnel dieser Armenstadt und sank zwischen zwei Schutthügeln nieder. Dort fanden ihn zwei zerlumpte Jungen, die ihre Kisten absetzten und stehen blieben, um dieses halb lebendige, aus sämtlichen Poren blutende Skelett zu betrachten.
Fermín lächelte ihnen zu und bildete mit den Fingern das Siegeszeichen. Die Jungen schauten sich an. Einer sagte etwas, was er nicht verstehen konnte. Er überließ sich der Erschöpfung und sah zwischen den halbgeöffneten Lidern, dass man ihn zu viert vom Boden aufhob und neben einem Feuer auf eine Pritsche legte. Er spürte die Wärme auf der Haut und allmählich das Gefühl in seine Füße, Hände und Arme zurückkehren. Dann überflutete ihn langsam und unerbittlich der Schmerz. Um ihn herum flüsterten matte Frauenstimmen unverständliche Worte. Seine wenigen Lumpen wurden ihm ausgezogen. In warmes Kampferwasser getauchte Tücher liebkosten unendlich zart seinen gebrochenen nackten Körper.
Als er die Hand einer Greisin auf der Stirn spürte, öffnete er die Augen einen Spaltbreit und sah ihren müden, weisen Blick in dem seinen.
»Woher kommst du?«, fragte die Frau, die Fermín in seinem Fieberwahn für seine Mutter hielt.
»Von den Toten, Mutter«, flüsterte er. »Ich bin von den Toten zurückgekehrt.«
Dritter Teil
Wiedergeboren werden
Barcelona, 1940
Was sich bei der alten Fabrik Vilardell ereignet hatte, gelangte nie in die Zeitung — keinem war daran gelegen, diese Geschichte ans Licht kommen zu lassen. Nur die direkt Beteiligten erinnern sich daran. Noch in der Nacht, in der Mauricio Valls nach seiner Rückkehr ins Kastell feststellen musste, dass der Gefangene Nr. 13 entflohen war, teilte der Direktor Inspektor Fumero von der politischen Polizei mit, einer der Gefangenen habe ausgepackt. Vor Sonnenaufgang waren Fumero und seine Leute bereits auf dem Posten.
Zwei von ihnen ließ der Inspektor die nähere Umgebung überwachen, den Rest konzentrierte er beim Haupteingang, von wo aus man, wie Valls gesagt hatte, das ehemalige Wärterhaus sehen konnte. Die Leiche Jaime Montoyas, des heldenhaften Fahrers des Gefängnisdirektors, der sich freiwillig erboten hatte, mutterseelenallein die Richtigkeit der von einem der Gefangenen vorgebrachten Aussagen über subversive Elemente zu überprüfen, lag noch an derselben Stelle zwischen den Trümmern. Kurz vor dem Morgengrauen schickte Fumero seine Leute auf das Fabrikareal. Sie umzingelten das ehemalige Wärterhaus, und als die beiden Männer und die junge Frau, die sich im Inneren aufhielten, ihre Anwesenheit bemerkten, gab es nur einen geringfügigen Zwischenfall: Die junge Frau, die eine Feuerwaffe hatte, traf den Arm eines der Polizisten. Die Wunde war ein harmloser Kratzer. In dreißig Sekunden hatten Fumero und seine Leute die Rebellen überwältigt.
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