»Das Häuschen, meinen Sie?«
»Genau. Da sollen Sie hingehen und anklopfen.«
»Ich soll dort hineingehen? In die Fabrik?«
Der Direktor ließ einen ungeduldigen Seufzer fahren.
»Nicht in die Fabrik. Hören Sie mir gut zu. Sie sehen das Haus, nicht wahr?«
»Jawohl.«
»Sehr gut. Also, Sie gehen zum Eingangsgitter, zwängen sich durch die Stangen, gehen zu dem Haus und klopfen an die Tür. Bis dahin alles klar?«
Der Fahrer bejahte ohne große Begeisterung.
»Schön. Nachdem Sie angeklopft haben, wird Ihnen jemand öffnen. Sobald das geschieht, sagen Sie: ›Durruti lebt.‹«
»Durruti?«
»Unterbrechen Sie mich nicht. Sie wiederholen, was ich Ihnen gesagt habe. Man wird Ihnen etwas übergeben. Wahrscheinlich einen Koffer oder ein Bündel. Sie bringen es her, und das wär’s auch schon. Einfach, nicht wahr?«
Der Fahrer war bleich und starrte in den Rückspiegel, als erwarte er, jeden Moment irgendjemand oder irgendetwas aus den Schatten treten zu sehen.
»Ganz ruhig, Jaime. Es wird nichts passieren. Ich bitte Sie um diesen persönlichen Gefallen. Sagen Sie, sind Sie verheiratet?«
»Vor etwa drei Jahren habe ich geheiratet, Herr Direktor.«
»Aha, sehr gut. Und haben Sie Kinder?«
»Ein zweijähriges Mädchen, und meine Frau ist guter Hoffnung, Herr Direktor.«
»Die Familie ist das Allerwichtigste, Jaime. Sie sind ein guter Spanier. Wenn Sie nichts dagegen haben, gebe ich Ihnen als vorgezogenes Taufgeschenk und zum Zeichen meiner Dankbarkeit für Ihre hervorragende Arbeit hundert Peseten. Und wenn Sie mir diesen kleinen Gefallen erweisen, werde ich Sie für eine Beförderung vorschlagen. Wie fänden Sie denn eine Bürotätigkeit in der Diputation? Ich habe gute Freunde dort, die mir sagen, dass sie charaktervolle Männer suchen, um das Land aus der Kloake zu ziehen, in die es die Bolschewiken hineingeritten haben.«
Bei der Erwähnung des Geldes und der guten Aussichten trat ein schwaches Lächeln auf die Lippen des Fahrers.
»Es wird doch nicht gefährlich sein, oder?«
»Jaime, ich bin es doch, der Herr Direktor. Würde ich Sie wohl um etwas Gefährliches oder Illegales bitten?«
Schweigend schaute ihn der Fahrer an. Valls lächelte ihm zu.
»Wiederholen Sie, was Sie zu tun haben, los.«
»Ich gehe zur Tür dieses Hauses und klopfe an. Wenn man aufmacht, sage ich: ›Es lebe Durruti.‹«
»›Durruti lebt.‹«
»Genau, ›Durruti lebt.‹ Man gibt mir den Koffer, und ich bringe ihn her.«
»Und wir fahren nach Hause. Ein Kinderspiel.«
Der Fahrer nickte, stieg nach einem Moment des Zögerns aus und ging los. Valls beobachtete, wie seine Gestalt durch das Lichtbündel der Scheinwerfer schritt und zum Gittertor kam. Dort wandte er sich einen Augenblick um und sah zum Wagen zurück.
»Los, mach schon, du Idiot«, murmelte Valls.
Der Fahrer zwängte sich durch die Stangen und ging, Trümmern und Unkraut ausweichend, langsam auf die Haustür zu. Der Direktor zog den Revolver aus der Mantelinnentasche und spannte den Hahn. Vor der Tür blieb der Fahrer stehen. Valls sah ihn zweimal anklopfen und dann warten. Es verging fast eine Minute, ohne dass etwas geschah.
»Noch einmal«, murmelte Valls für sich.
Jetzt schaute der Fahrer wieder zum Auto, als wüsste er nicht weiter. Auf einmal erschien in der vorher geschlossenen Tür ein Hauch gelblichen Lichts. Valls sah den Fahrer die Losung aussprechen und dann lächelnd abermals zum Auto zurückschauen. Der aus nächster Nähe abgefeuerte Schuss zerschmetterte ihm die Schläfe und durchdrang den Schädel. Auf der anderen Seite spritzte das Blut heraus, und der Körper, bereits Leiche, hielt sich im Pulverdampf noch einen Augenblick auf den Füßen und sackte dann wie eine zerbrochene Puppe zu Boden.
Hastig wechselte Valls vom Rücksitz ans Steuer des Studebaker. Mit der linken Hand den Revolver auf dem Armaturenbrett abstützend und in Richtung Fabrikeingang zielend, legte er den Rückwärtsgang ein und trat aufs Gas. Der Wagen holperte über Schlaglöcher und durch Pfützen in die Dunkelheit. Während er sich immer weiter entfernte, sah er im Fabrikeingang mehrere Schüsse aufblitzen, von denen aber keiner den Wagen traf. Erst nach etwa zweihundert Metern wendete er und schoss, sich vor Wut auf die Lippen beißend, mit Vollgas davon.
In seinem Sack konnte Fermín nur ihre Stimmen hören.
»Da haben wir ja noch mal Schwein gehabt«, sagte der neue Wärter.
»Fermín schläft schon«, sagte Dr. Sanahuja in seiner Zelle.
»Manche haben echt die Ruhe weg. Da, hier ist er. Jetzt könnt ihr ihn wegschaffen.«
Fermín hörte Schritte um sich herum und verspürte einen plötzlichen Ruck, als einer der Totengräber den Knoten neu schlang und kräftig zuzog. Dann hoben sie ihn zu zweit an und schleiften ihn über den Steinboden des Gangs. Fermín getraute sich nicht, auch nur einen Muskel zu rühren.
Die Schläge von Stufen, Ecken und Türen folterten seinen Körper erbarmungslos. Er hielt sich eine Faust in den Mund und biss darauf, um nicht vor Schmerz laut aufzuschreien. Nach einer langen Reise wurde es schlagartig kalt, und das klaustrophobische Echo, allgegenwärtig im ganzen Kastell, war verschwunden. Sie befanden sich im Freien. Er wurde mehrere Meter über ein hartes Pflaster voller Pfützen geschleift. Rasch drang die Kälte in den Sack.
Schließlich wurde er hochgehoben und ins Leere geworfen. Er landete auf einer Art Holzfläche. Schritte entfernten sich. Er atmete heftig. Im Sack stank es nach Exkrementen, fauligem Fleisch und Dieselöl. Er hörte den Motor anspringen, und nach einem Ruck setzte sich der Lastwagen in Bewegung. Auf dem abschüssigen Gelände geriet der Sack ins Rollen. Fermín merkte, dass sie unter langsamem Holpern denselben Weg bergab fuhren, der ihn vor Monaten ins Kastell geführt hatte, eine lange, kurvenreiche Fahrt, wie er sich erinnerte. Doch nach kurzer Zeit bog der Lastwagen in einen anderen Weg ein, der über flaches, nicht asphaltiertes Terrain verlief, und Fermín war sich sicher, dass sie in den Berg hinein- anstatt zur Stadt hinunterfuhren. Irgendetwas konnte nicht stimmen.
Erst jetzt kam er auf den Gedanken, vielleicht habe Martín nicht alle Details berücksichtigt, irgendetwas könnte ihm entgangen sein. Letztlich wusste niemand mit Bestimmtheit, was mit den Leichen geschah. Vielleicht war Martín nicht darauf gekommen, dass sie möglicherweise in einen Kessel geschmissen und so aus der Welt geschafft wurden. Fermín konnte sich vorstellen, wie Salgado beim Erwachen aus seinem Chloroformnebel in Gelächter ausbrach und sagte, noch bevor Fermín Romero de Torres, oder wie auch immer sein Name sei, im Fegefeuer brutzele, sei er schon bei lebendigem Leib verschmort.
Die Fahrt zog sich noch einige Minuten hin. Dann verlangsamte der Lastwagen die Geschwindigkeit, und nun nahm Fermín auf einmal einen Gestank wahr, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Das Herz schnürte sich ihm zusammen, und während ihn diese unsägliche Ausdünstung an den Rand der Ohnmacht trieb, wünschte er sich, niemals auf diesen Wahnsinnigen gehört zu haben und einfach in seiner Zelle geblieben zu sein.
Beim Kastell angelangt, stieg der Direktor aus dem Studebaker aus und eilte in sein Büro. Vor der Tür saß immer noch wie festgenagelt der Sekretär an seinem kleinen Schreibtisch und tippte mit zwei Fingern die Korrespondenz des Tages.
»Hör schon auf damit und lass sofort den Schweinehund Salgado herbringen«, befahl er.
Der Sekretär schaute ihn verwirrt an und wusste nicht, ob er den Mund öffnen sollte.
»Bleib doch nicht wie ein Ölgötze da sitzen, rühr dich.«
Verängstigt stand der Sekretär auf und wich dem zornigen Blick des Direktors aus.
»Salgado ist gestorben, Herr Direktor. Heute Nacht…«
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