Anderthalb Monate nach seinem Eintreffen begannen die Wunden zu verheilen. Als der Mann die Augen öffnete und fragte, wo er sei, half man ihm, sich aufzurichten und eine Brühe zu schlürfen, gab ihm jedoch keine Antwort.
»Sie müssen ruhen.«
»Lebe ich?«
Niemand bestätigte oder widerlegte es ihm. Seine Tage verstrichen zwischen Schlafen und einer hartnäckigen Müdigkeit. Immer wenn er die Augen schloss und sich der Erschöpfung überließ, reiste er an denselben Ort. In seinem sich Nacht für Nacht wiederholenden Traum erkletterte er die Wände eines unendlichen, mit Leichen angefüllten Grabens. Wenn er oben war und zurückschaute, sah er, dass sich diese Flut geisterhafter Leichen durcheinanderwühlte wie ein Strudel von Aalen. Die Toten schlugen die Augen auf und kletterten hinter ihm her die Wände hinauf. Sie folgten ihm durch den Berg und überschwemmten die Straßen Barcelonas, wo sie ihr ehemaliges Zuhause suchten, bei den geliebten Menschen anklopften. Einige machten sich auf die Suche nach ihren Mördern und klapperten rachedurstig die ganze Stadt ab, aber die meisten wollten nur in ihre Wohnung, in ihre Betten zurück, wollten die zurückgelassenen Kinder, Frauen, Geliebten in die Arme nehmen. Es machte ihnen jedoch niemand auf, niemand nahm ihre Hand in die seinen, und niemand wollte ihre Lippen küssen, und der Todkranke erwachte in der Dunkelheit schweißgebadet ob dem ohrenbetäubenden Weinen der Toten in seiner Seele.
Oft besuchte ihn ein Fremder. Er roch nach Tabak und Kölnischwasser, beides damals nicht sehr verbreitet. Er setzte sich auf einen Stuhl neben seinem Bett und schaute ihn aus undurchdringlichen Augen an. Sein Haar war pechschwarz, seine Züge scharf. Wenn er merkte, dass der Genesende wach war, lächelte er ihm zu.
»Sind Sie Gott oder der Teufel?«, fragte ihn der Kranke einmal.
Der Fremde zuckte mit den Schultern und wog die Antwort ab.
»Beides ein wenig«, antwortete er schließlich.
»Ich bin im Prinzip Atheist«, teilte ihm der Patient mit. »Obwohl ich in Wirklichkeit einen starken Glauben habe.«
»Wie viele Leute. Ruhen Sie sich jetzt aus, mein Freund. Der Himmel kann warten. Und die Hölle ist zu klein für Sie.«
Zwischen den Besuchen des Herrn mit dem pechschwarzen Haar ließ sich der Genesende ernähren, waschen und sich saubere Kleider überziehen, die ihm zu groß waren. Als er sich endlich wieder auf den Beinen halten und einige Schritte tun konnte, begleitete man ihn an den Strand, wo er sich die Füße vom Wasser umspielen und sich von der Mittelmeersonne liebkosen lassen konnte. Einmal schaute er einen Vormittag lang einigen zerlumpten Kindern mit schmutzigen Gesichtern beim Spielen im Sand zu und dachte, dass er Lust hatte zu leben, wenigstens noch ein bisschen. Mit der Zeit stellten sich die Erinnerung und die Wut wieder ein und damit der Wunsch — aber auch die Angst —, in die Stadt zurückzukehren.
Beine, Arme und übrige Mechanismen begannen wieder einigermaßen normal zu funktionieren. Er gewann das seltsame Vergnügen zurück, ohne Brennen oder beschämende Zwischenfälle in den Wind zu urinieren, und dachte, ein Mann, der ohne Hilfe im Stehen pinkeln könne, sei Manns genug, seine Verantwortlichkeiten auf sich zu nehmen. Spät in dieser Nacht stand er leise auf und ging durch die engen Gassen zu der Grenze der Armenstadt, die von den Bahnschienen bestimmt wurde. Auf der anderen Seite erhoben sich der Wald von Schloten und der Kamm von Engeln und Mausoleen auf dem Friedhof. Noch weiter entfernt, wie auf einem sich die Hügel hinaufziehenden Lichtergemälde, lag Barcelona. Er hörte Schritte hinter sich, und als er sich umwandte, sah er den gelassenen Blick des Mannes mit dem pechschwarzen Haar.
»Sie sind wiedergeboren worden«, sagte er.
»Na, dann bin ich ja mal gespannt, ob es diesmal besser klappt als beim ersten Mal, denn bis jetzt…«
Der Mann mit dem pechschwarzen Haar lächelte.
»Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Ich bin Armando, der Zigeuner.«
Fermín gab ihm die Hand.
»Fermín Romero de Torres, Nichtzigeuner, aber relativ vertrauenswürdig.«
»Lieber Fermín, ich habe den Eindruck, Sie tragen sich mit dem Gedanken, zu denen zurückzugehen.«
»Die Katze lässt das Mausen nicht«, sagte Fermín. »Ich habe einiges Unfertige hinterlassen.«
Armando nickte.
»Verstehe, aber es ist noch zu früh, mein Freund. Haben Sie Geduld. Bleiben Sie noch eine Zeitlang bei uns.«
Die Angst vor dem, was ihn bei seiner Rückkehr erwartete, und die Großherzigkeit dieser Menschen hielten ihn zurück, bis ihm eines Sonntagmorgens eine Zeitung in die Hände fiel, die einer der Jungen im Abfall einer der Strandkneipen der Barceloneta gefunden hatte. Es war schwer zu sagen, wie lange die Zeitung da gelegen hatte, aber sie trug ein Datum drei Monate nach seiner Flucht. Er kämmte die Seiten nach einem Indiz oder einem Namen durch, fand aber nichts. An diesem Nachmittag, als er bereits beschlossen hatte, in der Dämmerung nach Barcelona zurückzugehen, trat Armando zu ihm und teilte ihm mit, einer seiner Leute sei bei der Pension vorbeigegangen, wo er gewohnt hatte.
»Fermín, es ist besser, Sie gehen nicht dorthin, um Ihre Sachen zu holen.«
»Woher kennen Sie denn mein Domizil?«
Lächelnd wich Armando der Frage aus.
»Die Polizei hat dort verbreitet, Sie seien gestorben. Schon vor Wochen ist eine Meldung über Ihren Tod in der Zeitung erschienen. Ich wollte Ihnen nichts sagen, weil mir scheint, während der Genesung über den eigenen Tod zu lesen ist nicht unbedingt hilfreich.«
»Woran bin ich denn gestorben?«
»An natürlichen Ursachen. Sie sind in einen Abgrund gestürzt, als Sie vor der Justiz fliehen wollten.«
»Dann bin ich also tot?«
»Wie die Polka.«
Fermín dachte darüber nach, was sein neuer Status mit sich brachte.
»Und was soll ich jetzt tun? Wo soll ich hin? Ich kann ja nicht ewig hierbleiben und Ihre Güte ausnützen und Sie alle in Gefahr bringen.«
Armando setzte sich zu ihm und steckte sich eine seiner selbstgedrehten Zigaretten an, die nach Eukalyptus rochen.
»Fermín, Sie können tun, was Sie wollen, denn es gibt Sie nicht. Ich würde beinahe sagen, bleiben Sie bei uns — jetzt sind Sie einer von uns, Leuten, die keinen Namen haben und nirgends auftauchen. Wir sind Geister. Unsichtbar. Aber ich weiß, dass Sie zurückgehen und regeln müssen, was Sie hinterlassen haben. Leider kann ich Ihnen keinen Schutz mehr bieten, wenn Sie einmal hier weggegangen sind.«
»Sie haben schon genug für mich getan.«
Armando klopfte ihm auf die Schulter, zog ein zusammengefaltetes Blatt aus der Tasche und gab es ihm.
»Verlassen Sie für eine Weile die Stadt. Lassen Sie ein Jahr vergehen, und wenn Sie wiederkommen, fangen Sie hier an«, sagte er.
Fermín faltete das Blatt auseinander und las:
FERNANDO BRIANS
Anwalt
Calle de Caspe,12
Penthouse 1 a
Barcelona
Tel. 56 43 75
»Wie kann ich bloß gutmachen, was Sie alles für mich getan haben?«
»Wenn Sie Ihre Angelegenheiten geregelt haben, kommen Sie mal her und fragen Sie nach mir. Dann gehen wir in eine Flamencovorstellung von Carmen Amaya, und anschließend erzählen Sie mir, wie Sie es geschafft haben, dort oben wegzukommen. Ich bin gespannt.«
Fermín schaute in diese schwarzen Augen und nickte langsam.
»In welcher Zelle waren Sie denn, Armando?«
»In Nr. 13.«
»Stammen diese eingeritzten Kreuze an der Wand von Ihnen?«
»Im Gegensatz zu Ihnen, Fermín, bin ich gläubig, aber mir ist der Glaube abhandengekommen.«
An diesem Abend hinderte ihn niemand am Gehen, und niemand verabschiedete sich von ihm. Einer unter vielen Unsichtbaren, machte er sich auf zu den Straßen eines Barcelona, das nach Elektrizität roch. In der Ferne sah er die Türme der Sagrada-Familia-Kirche in einer roten Wolkendecke gefangen, die ein biblisches Gewitter verhieß, und ging weiter. Seine Schritte führten ihn zum Busbahnhof in der Calle Trafalgar. In den Taschen des Mantels, den ihm Armando geschenkt hatte, fand er Geld. Er kaufte sich eine Fahrkarte für die längste Strecke, die er fand, und verbrachte die Nacht im Bus, der unter dem Regen über leere Landstraßen fuhr. Das wiederholte er am nächsten Tag, und so gelangte er nach Tagen der Züge, Fußmärsche und Nachtbusse an einen Ort, wo die Straßen keinen Namen und die Häuser keine Nummern hatten und wo sich nichts und niemand an ihn erinnerte.
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