Er hatte hundert Beschäftigungen und keinen Freund. Er verdiente Geld und gab es aus. Er las Bücher, die von einer Welt sprachen, an die er nicht mehr glaubte. Er begann Briefe zu schreiben, für die er nie ein Ende fand. Er lebte gegen die Erinnerung und die Gewissensbisse an. Mehr als einmal ging er in die Mitte einer Brücke oder trat dicht an eine Schlucht heran und schaute gelassen in die Tiefe. Immer erinnerte er sich im letzten Moment an dieses Versprechen und den Blick des Gefangenen des Himmels. Nach einem Jahr gab er das Zimmer auf, das er über einem Café gemietet hatte, und mit nichts im Gepäck als einem Exemplar von Die Stadt der Verdammten, das er auf einem Trödelmarkt gefunden hatte, möglicherweise dem einzigen Buch Martíns, das nicht verbrannt worden war und das er ein Dutzend Mal gelesen hatte, ging er die zwei Kilometer zum Bahnhof und kaufte die Fahrkarte, die diese ganzen Monate auf ihn gewartet hatte.
»Einmal Barcelona, bitte.«
Der Schalterbeamte reichte ihm die Fahrkarte mit einem verächtlichen Blick:
»Wie kann man bloß«, sagte er, »zu diesen Scheißkatalanen…«
Barcelona, 1941
Es wurde gerade dunkel, als Fermín nach einer langen Fahrt im Francia-Bahnhof aus dem Zug stieg. Die Lokomotive hatte eine Dampf- und Rußwolke ausgespuckt, die sich über den Bahnsteig zog und die Schritte der Passagiere verhüllte. Fermín reihte sich in den schweigenden Marsch zum Ausgang ein, Leute in zerlumpten Kleidern, die mit Schnüren zusammengehaltene Koffer schleppten, vorzeitig Gealterte, die ihre gesamte Habe in einem Bündel mit sich trugen, und Kinder mit leerem Blick und leeren Taschen.
Eine Zweierstreife der Guardia Civil bewachte den Eingang zum Bahnsteig, und Fermín sah ihre Augen über die Passagiere schweifen; ab und zu fragten sie jemanden nach seinen Papieren. Er ging geradeaus weiter direkt auf einen von ihnen zu. Als nur noch etwa zwölf Meter sie trennten, bemerkte er, dass ihn der Zivilgardist beobachtete. In Martíns Roman, der ihm diese ganzen Monate Gesellschaft geleistet hatte, sagte eine der Figuren, am besten könne man die Autoritäten entwaffnen, indem man sich an sie wende, ehe sie sich an einen wenden. Bevor der Beamte auf ihn deuten konnte, trat Fermín zu ihm und sprach ihn mit heiterer Stimme an:
»Guten Abend, Chef. Wären Sie wohl so freundlich und würden Sie mir sagen, wo sich das Hotel Porvenir befindet? Soweit ich weiß, liegt es auf der Plaza Palacio, aber ich kenne die Stadt kaum.«
Der Gardist schaute ihn schweigend an, ein wenig verwirrt. Sein Kollege war hinzugetreten und deckte seine rechte Flanke.
»Das werden Sie am Ausgang erfragen müssen«, sagte er in wenig freundlichem Ton.
Fermín nickte höflich.
»Entschuldigen Sie die Störung. Das werde ich tun.«
Er wollte schon auf die Eingangshalle zugehen, als ihn der andere Beamte am Arm fasste.
»Wenn Sie rauskommen, liegt die Plaza Palacio linker Hand. Gegenüber dem Kapitanat.«
»Vielen Dank. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.«
Der Gardist ließ ihn los, und Fermín ging langsam davon, seine Schritte abmessend, bis er in die Halle und von dort auf die Straße gelangte.
Scharlachroter Himmel lag über einem schwarzen, mit dunklen, schmalen Silhouetten durchwirkten Barcelona. Eine halbleere Straßenbahn schleppte sich voran und warf ein fahles Licht auf das Pflaster. Fermín wartete, bis sie vorbei war, dann ging er auf die andere Seite hinüber. Beim Überqueren der spiegelblanken Schienen betrachtete er die Flucht, die der Paseo Colón zeichnete, und im Hintergrund den Montjuïc-Hügel mit dem sich über die Stadt erhebenden Kastell. Er senkte den Blick und bog in die Calle Comercio Richtung Born-Markt ein. Die Straßen waren menschenleer, und durch die Gassen pfiff eine kalte Brise. Er wusste nicht, wohin er sich wenden sollte.
Er erinnerte sich, dass ihm Martín erzählt hatte, vor Jahren habe er hier in der Nähe gewohnt, in einem alten Gemäuer in der engen Schattenschlucht der Calle Flassaders, neben der Schokoladenfabrik Mauri. Dort ging er hin, musste aber feststellen, dass dieses und das angrenzende Haus den Kriegsbomben zum Opfer gefallen waren. Die Behörden hatten sich nicht die Mühe gemacht, die Trümmer wegzuschaffen, und die Anwohner hatten, vermutlich, um sich in dieser Straße bewegen zu können, die enger war als der Korridor mancher Herrschaftshäuser, nur den Schutt auf der Seite aufgehäuft.
Fermín sah sich um. Man konnte kaum die Lichter und Kerzen sehen, die von den Balkonen her ein fahles Licht abgaben. Er betrat den Ruinenbereich, umging Trümmer, zerbrochene Wasserspeier und in unmöglichen Knoten verzahnte Balken. Im Schutt suchte er eine Lücke und kauerte sich dann hinter einem Stein nieder, auf dem noch die Nummer 30 zu lesen war, David Martíns ehemalige Wohnstätte. Er raffte den Mantel und die alten Zeitungen, die er unter den Kleidern trug. Zusammengerollt schloss er die Augen und versuchte einzuschlafen.
Nach einer halben Stunde hatte die Kälte seine Knochen erreicht. Ein feuchter Wind leckte die Ruinen auf der Suche nach Spalten und Ritzen. Fermín öffnete die Augen und stand auf. Er wollte eben eine geschütztere Ecke suchen, als er bemerkte, dass ihn auf der Straße jemand beobachtete. Er rührte sich nicht mehr. Die Gestalt kam ein paar Schritte näher.
»Wer ist da?«, fragte sie.
Sie näherte sich noch ein wenig mehr, und der Abglanz einer Straßenlaterne in der Ferne zeichnete ihr Profil in die Nacht. Es war ein großgewachsener, kräftiger Mann in Schwarz. Fermín sah den Kragen — ein Priester. Er hob die Hände zum Zeichen des Friedens.
»Ich geh ja schon, Pater. Bitte rufen Sie nicht die Polizei.«
Der Priester musterte ihn von oben bis unten. Er hatte einen strengen Blick und sah aus, als hätte er ein halbes Leben lang im Hafen Säcke und nicht Kelche gehoben.
»Haben Sie Hunger?«, fragte er.
Fermín, der jeden dieser Steine verschlungen hätte, wenn ihn nur jemand mit drei Tropfen Olivenöl begossen hätte, verneinte.
»Ich habe eben im Set Portes diniert und mich mit schwarzem Reis vollgestopft«, sagte er.
Der Priester deutete ein Lächeln an. Er wandte sich um und marschierte los.
»Kommen Sie«, befahl er.
Pater Valera wohnte am Ende des Paseo del Borne in einer Dachgeschosswohnung, von der aus man direkt auf die Halle des Born-Markts sah. Begeistert führte sich Fermín drei Teller Suppe, einige Stück trockenes Brot und zwei mit Wasser gepanschte Glas Wein zu Gemüte, die der Geistliche vor ihn hingestellt hatte, während er ihn neugierig beobachtete.
»Essen Sie nichts, Pater?«
»Ich esse nie zu Abend. Genießen Sie es, ich sehe ja, dass Sie seit 1936 Hunger leiden.«
Während er geräuschvoll die Suppe mit dem Brot darin schlürfte, ließ Fermín den Blick durchs Esszimmer schweifen. Neben ihm zeigte eine Vitrine eine Teller- und Gläsersammlung, dazu mehrere Heilige und ein bescheidenes Silberbesteck.
»Ich habe Die Elenden ebenfalls gelesen, also Vorsicht«, warnte ihn der Geistliche.
Fermín nickte beschämt.
»Wie heißen Sie?«
»Fermín Romero de Torres, Eurer Exzellenz zu dienen.«
»Werden Sie gesucht, Fermín?«
»Je nachdem. Das ist ein verzwicktes Thema.«
»Es macht mir nichts aus, wenn Sie es mir nicht erzählen wollen. Aber mit diesen Kleidern können Sie hier nicht rumlaufen, da landen Sie hinter Gittern, noch ehe Sie bei der Vía Layetana sind. Es werden viele Leute angehalten, die sich eine Zeitlang versteckt haben. Man muss sehr vorsichtig sein.«
»Sobald ich einige Bankeinlagen aus dem Winterschlaf befreit habe, will ich beim Schwimmenden Deich vorbeischauen und wie aus dem Ei gepellt wieder rauskommen.«
»Stehen Sie doch mal einen Moment auf.«
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