Nach etwa fünf Tagen, die mit mühseliger Arbeit ausgefüllt waren, rief er an. Witold war aufgeregt. Kaum brachte er seine übliche freundliche Einleitung, mit der er immer seine Gespräche begann und die nur der Frage nach meiner Befindlichkeit galt, zustande.
»Erinnerst du dich, Thyra, daß man früher immer von ›Kommissar Zufall‹ sprach? Heute ist dieser erfolgreichste aller Polizisten durch ›Kommissar Computer‹ ersetzt worden.
Jedenfalls gibt es nun viele junge Kriminalisten, die ihren Computer pausen- und gnadenlos mit Daten, Fakten, Personen und Untaten füttern und auf diesem Wege zuweilen Zusammenhänge entdecken, auf die sie sonst nicht gekommen wären.«
Ich lauschte angespannt. »Na und?« hauchte ich.
»Also, ich wurde mal wieder zur Ladenburger Polizei zitiert.
Nach Hilkes Tod war ich häufig dort, aber in der letzten Zeit herrschte Funkstille.
Nun, um es nicht zu spannend zu machen: Die elsässische Polizei hat den Fall Pamela Schröder abgeschlossen und ihren Ladenburger Kollegen weitergegeben. Und in Ladenburg sitzt also ein Computerfreak. Auch ohne technische Hilfe war ihm bereits aufgefallen, daß die Ehefrauen von zwei befreundeten Männern innerhalb kurzer Zeit unter relativ unklaren Umständen gestorben sind. Aber jetzt wird es interessant. Er kennt einen Kollegen an der Bergstraße, der Beates Fall bearbeitet hat und der ebenfalls computerbesessen ist. Sie dachten beide, daß alle diese Fälle in räumlicher Nähe stattfanden und daß alle drei Frauen weder alt noch krank waren. Thyra, das gleiche habe ich neulich auch zu dir gesagt, und ich bin kein Kommissar!«
»Ich verstehe überhaupt nicht, was du mit dem Computer willst«, sagte ich.
»Das kommt doch gerade. Also, die beiden Kriminalisten fütterten ihre Computer mit allen Personen, die mit diesen drei toten Frauen zu tun hatten. Natürlich haben sie auch noch viele andere Spuren verfolgt, die im Sande verliefen. Na, jedenfalls stellten sie fest, daß ich alle drei gekannt habe, zwei davon sehr gut. Daß ich mit Vivian befreundet war, wußten sie übrigens genau, sie müssen mich gelegentlich observiert haben.«
»Ja, aber was für Schlüsse ziehen sie nun daraus?«
»Thyra, sie haben mir natürlich nicht unter die Nase gerieben, daß sie mich für einen begnadeten Frauenmörder halten. Aber vielleicht denken sie doch in diese Richtung.
Jedenfalls werde ich wieder beobachtet, das habe ich heute deutlich gemerkt.«
»Haben sie auch etwas über mich gesagt?«
»Sie sagten, daß beispielsweise auch Ernst Schröder diese drei Frauen gekannt habe — er steht nicht anders da als ich. Sie werden sich bestimmt mit ihm beschäftigen. Vermutlich bin ich aber noch mehr verdächtig, weil die Serie mit meiner Frau begann.«
»Und was war mit mir?« fragte ich wieder.
»Namentlich haben sie dich nicht erwähnt. Tatsächlich hast du Hilke ja nicht gekannt. Aus meinem Umkreis haben viele Leute sowohl Scarlett als auch Hilke gekannt, jedoch nicht Beate. Sie konzentrieren sich vermutlich erst mal auf diejenigen Menschen, die mit allen drei Toten in Beziehung standen, und das sind höchstwahrscheinlich nur Ernst und ich.«
»Meinst du, daß sie mich auch sprechen wollen?«
Witold überlegte kurz, im Augenblick dachte er hauptsächlich an sich selbst.
»Was weiß ich? Vielleicht unter ›ferner liefen‹. Aber man wird bei dir kein Motiv finden.«
»Witold, um Gottes willen, von wo rufst du an?«
»Von einer Zelle, ich bin doch nicht verrückt. — Bei mir liegt theoretisch ein Motiv vor, meine Frau umgebracht zu haben: Ich konnte ihren Suff nicht mehr ertragen. Aber bei den zwei anderen? Beate hatte nichts gegen meine Beziehung zu Vivian, niemand kann glauben, ich hätte sie aus dem Weg räumen müssen, um dieses Mädchen zu kriegen. Und falls man mir unterstellt, ein Auge auf Scarlett geworfen zu haben, dann hätte ich ja viel eher ihren Mann ermorden müssen.«
»Geht man etwa davon aus, daß es sich in allen Fällen um Mord handelt?« fragte ich, nun auch äußerst irritiert.
»Das sagen sie nicht so direkt. Sie meinen nur, es gebe allzu viele Ungereimtheiten. Wie würdest du dich denn an meiner Stelle verhalten? Weder bei Hilke noch bei Scarlett habe ich ein reines Gewissen.«
»Du solltest dir das auf keinen Fall anmerken lassen«, riet ich.
Dachte er gar nicht an mich? Kam ihm überhaupt kein Verdacht? Vor kurzem war er doch nahe an die Wahrheit herangekommen. Er ist egozentrisch, dachte ich, auch Ernst interessiert ihn nicht sonderlich. Ich versprach, über alles nachzudenken, nichts über seine (und meine) Rolle bei Hilkes Tod zu sagen, auch nicht über sein Rendezvous mit Scarlett kurz vor ihrem Ende.
Ich mußte auf der Hut sein. Man glaubte also, drei Frauen könnten ermordet worden sein und eventuell alle vom gleichen Täter. Ich mußte überlegen, was ich bei einem möglichen Verhör sagen sollte. Und denkbar war durchaus, daß auch mein Telefon abgehört wurde und man mich beschattete.
Mittwoch abend. Die Beerdigung von Scarlett mußte wohl vorbei sein. Witold und Kitty waren sicher wieder zu Hause.
Ich mochte nicht anrufen, sondern fuhr vom Büro aus nach Ladenburg. Vor Witolds Tür stand Beates Auto. Sekundenlang setzte mein Herz aus, bis ich begriff, daß es Vivian sein mußte.
Nein, die wollte ich nicht bei einem Tête-à-tête mit ihm überraschen. Ich fuhr sofort weiter. Nach Hause wollte ich auch nicht, daher beschloß ich, Kitty zu besuchen.
Obgleich ich schon einmal mit Witold zu Kitty gefahren war, fiel es mir nicht leicht, ihre Wohnung in Schriesheim zu finden, ich mußte zweimal fragen. Es war ein Mehrfamilienhaus in einer Wohngegend. Ich schellte. Die Tür wurde sofort aufgerissen. Kitty stand mit einem Kind im Flur. Sie wunderte sich nicht über meinen Besuch, verabschiedete sich von der Nachhilfeschülerin und machte mit ihr einen neuen Termin aus, dann gingen wir ins Wohnzimmer.
Kittys Wohnung war nordisch hell, eine Gitarre hing an der Wand, blaue Flickenteppiche lagen am Boden, auf den Segeltuchsesseln hingen Schaffelle. An den Wänden standen rohe Holzregale mit vielen Büchern, auf dem Schreibtisch lauerte eine Katze.
Um einen Moment der Befangenheit zu überbrücken, trat ich auf die Katze zu und wollte sie streicheln, aber das Tier sprang ängstlich weg und versteckte sich. Kitty ließ mich Platz nehmen und verschwand in der Küche: Sie wollte Teewasser aufsetzen. Witolds Buch lag auf dem Schreibtisch. Ein Foto von ihm und ihr, wohl von einer gemeinsamen Klassenfahrt, hing sehr delikat gerahmt und ein wenig versteckt in der Fensterecke. In mir wallte nun doch eine eifersüchtige Wut auf, denn solche Fotos besaß ich nicht.
Als Kitty mit zwei irdenen unglasierten Teeschalen, braunem Zucker und Ingwerplätzchen wieder erschien, fragte ich, ob ihre Fotos von der Elsaßwanderung fertig wären. Sie sah mich entsetzt an.
»Mein Gott, nach diesem Schock denkst du noch an Fotos!
Der Film ist nur halb verknipst, sicher werde ich die andere Hälfte noch monatelang für eine passende Gelegenheit aufheben.«
Nun fragte ich, wie die Beerdigung gewesen sei. Kitty rannte wieder in die Küche, um das kochende Wasser in die Teekanne zu schütten.
»Natürlich war es schrecklich«, begann sie, »der Pfarrer hat aber wenigstens eine gute Rede gehalten, weder sentimental noch banal. Wir alle waren ergriffen. Ernst und die beiden Kinder — das war kaum zum Ertragen! Ein so großes Leid, das kann ich dir gar nicht schildern!« Kitty hatte Tränen in den Augen.
»Waren viele Leute da?«
»Ganz Ladenburg, so schien mir. Auch das halbe Lehrerkollegium, die Schulklassen von Oleg und Annette, verschiedene Vereine. Die Schröders sind sehr beliebt. — Ach, es ist schon tragisch, wenn eine Mutter von zwei Kindern stirbt.«
Ich hörte wieder mit Genugtuung von der großen Beerdigung. Alles mein Werk. Jetzt tat es mir doch leid, nicht dabei gewesen zu sein.
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