Kitty brachte mich vor Witolds Tür, wo mein Wagen stand.
Sie gab mir die Hand und bedauerte, daß diese Elsaßreise so traurig zu Ende gegangen war.
Ich nahm meinen Koffer, fuhr Richtung Mannheim und überlegte fieberhaft, wie ich als erstes den elektrischen Lockenstab loswerden könnte. Ich hielt am Neckarufer, holte das Corpus delicti aus dem Koffer und steckte es in die Handtasche. Dann ging ich einen Feldweg entlang und warf das Ding an einer geschützten Stelle ins Wasser.
Als ich etwa zwei Stunden zu Hause war, rief Witold an. Er meinte, Ernst und er könnten am nächsten Tag auch heimfahren. Die Leiche würde von Frankreich aus nach Ladenburg überführt. Die Polizei habe allerdings noch eine Frage: In Scarletts Gepäck befände sich die Schachtel für einen elektrischen Lockenstab, der aber nicht darinläge. Ob wir — Kitty und ich — diesen Gegenstand versehentlich eingesteckt hätten. Ich verneinte, sagte jedoch, daß auch Kitty ihn irgendwo gesehen zu haben glaubte.
»Also war das Ding mit auf der Reise?« überlegte Witold.
»Ich hatte nämlich die Idee, daß Scarlett aus Schlamperei nur die leere Schachtel mitgenommen hatte. Na ja, ich weiß weder, wie so ein Ding aussieht, noch, warum sich die Polizei dafür interessiert.«
Er verabschiedete sich und versprach, sich bald wieder zu melden.
Hinterher ärgerte ich mich. Vielleicht wäre es richtig gewesen zu behaupten, daß ich den Lockenstab eingepackt hätte. Ein neuer wäre schnell gekauft gewesen. Andererseits hatte ich keine Ahnung, welche Marke und welches Alter Scarletts Lockendreher hatte. Es würde wahrscheinlich noch viel verdächtiger aussehen, wenn das Gerät nicht zu der Originalschachtel paßte. Trotzdem war ich beunruhigt und nervös. Zum Glück hatte ich noch zwei freie Tage; ich wollte sie ganz zu meiner körperlichen und seelischen Regeneration verwenden.
Am nächsten Tag rief Frau Römer an. Ob sie mal reinschauen könne? Sie kam also nachmittags, der Dieskau lag mir in den Armen und rührte mich. Frau Römer begann vorsichtig, auf ihre geplante Amerikareise zu verweisen. Ich versicherte, daß mir der Hund jederzeit willkommen sei, und Frau Römer war beglückt. Wenn das wirklich so wäre, wollte sie demnächst einen Flug buchen und dann drei Wochen bei ihrer Tochter in Amerika bleiben. Ich ermutigte sie, ruhig doppelt so lange zu verreisen, denn wenn man schon einmal dort war… Bei dieser Gelegenheit fragte ich sie auch, ob ihre Tochter wisse, wer ihr Vater sei. Nein, sie glaube, ihr Vater sei tot.
Übrigens trug ich an diesem Nachmittag die Brosche, um Frau Römer zu ehren. Ich hatte sie Ernst Schröder noch nicht übergeben, plante aber, sie ihm nach der Beerdigung zu schicken. Frau Römer war glücklich, daß ich das wertvolle Stück angesteckt hatte.
Sie erzählte von ihrem alten Hund, der anscheinend nicht mehr gut sehen und riechen konnte.
»Als junger Hund war der Dieskau ein großer Katzenjäger.
Überhaupt fegte er hinter allem her, was sich bewegte, auch hinter Vögeln. Bei zunehmender Erfahrung hat er das wenigstens aufgegeben.« Sie lachte vor sich hin.
»Einmal, als er noch sehr jung und dumm war, nahm ich ihn mit auf einen Segel- und Sportflugplatz. Von weitem konnte man sehen, wie so ein Riesenvogel auf die grüne Wiese zuflog und sanft landete. Der Hund war nicht an der Leine und schoß davon, um diese Beute zu fangen. Ich natürlich hinter ihm her, denn er war unter der Absperrung durchgewitscht. Mit viel Geschrei und Gerufe gelang es mir, ihn zurückzukommandieren.
Na, sagte ich, was hättest du denn mit diesem Vogel gemacht, du kleiner Hund, wenn du ihn erwischt hättest?«
Ich lachte auch ein wenig, pflichtgemäß.
Frau Römer fuhr fort: »Später kam mir dieses Bild oft wie ein Symbol vor. Auch ich, beziehungsweise alle Menschen, rasen hinter einem großen Ziel her, wollen unbedingt alles haben und erkennen ebensowenig wie der kleine Hund, daß diese Beute das falsche Kaliber hat und wir gar nichts damit anfangen könnten.«
Sie sah mich an und meinte: Ȇbrigens, was ganz anderes!
Gehen Sie mal zum Arzt, Frau Hirte, Sie gefallen mir in letzter Zeit gar nicht.«
Ich lag an diesem freien Tag hauptsächlich im Bett. Am Sonntag abend ließ Witold von sich hören, Kitty hatte sich gar nicht gemeldet. Ernst und er seien wieder zu Hause. Die Apotheke sei geschlossen. Ernst beschäftige sich intensiv mit seinen Kindern.
Ich fragte nach der Beerdigung.
»Kommenden Mittwoch«, antwortete Witold, »die Obduktion hat übrigens ergeben, daß Scarlett ertrunken ist.
Wie wir schon dachten, hatte sie einen Herzanfall, wurde bewußtlos und ertrank.«
»Witold, wie geht es dir?« wollte ich wissen.
»Den Umständen entsprechend«, sagte er kurz.
Ich entschloß mich zu einer Bemerkung.
»Du hast mit Scarlett noch nachts eine Zigarette geraucht«, begann ich, »da es aber sicher unwichtig in diesem Zusammenhang ist, habe ich der Polizei nichts erzählt.«
Witold gab einen Laut von sich, der ziemlich waidwund klang.
»Thyra, ein für allemal: Du brauchst mich nicht zu beschützen. Ich kann auf mich selbst aufpassen.«
»Warum hast du dann nichts davon gesagt?«
»Aus Respekt vor der Toten und natürlich vor Ernst. Es war so schon schlimm genug für ihn. Soll er nun auch noch Zweifel kriegen, ob seine Frau ihn mit seinem Freund betrogen hat?«
»Aber sie hat«, konstatierte ich.
Ich hörte Witolds Feuerzeug klicken und dann das heftige Ein- und Ausatmen.
»Purer Quatsch«, sagte er zornig, »wir haben ziemlich lange draußen gesessen und geredet, aber das war’s auch.«
»Warum seid ihr denn dann noch ins Auto gestiegen?« fragte ich.
Witold erregte sich.
»Wenn das ein Verhör sein soll, dann würde ich an deiner Stelle erst mal vor der eigenen Tür kehren. Wir sind ins Dorf gefahren, um Zigaretten zu holen. Tschüs!«, er legte auf, wütend.
Nach zehn Minuten rief er wieder an.
»Thyra, nimm’s mir nicht krumm, ich bin dabei, die Nerven zu verlieren. Natürlich ist es nett von dir gewesen, nichts über unseren nächtlichen Treff zu verraten. Ich danke dir dafür. — Hast du denn gehört, als Scarlett wieder zurückkam?«
Aha, die lange Zeit im Auto reichte nicht für einen kleinen Trip zum Zigarettenautomaten. Witold befürchtete wohl, daß ich durchaus ahnte, daß im Auto nicht bloß geraucht worden war.
»Natürlich habe ich sie nicht gehört«, versicherte ich, »ich bin wohl gegen zwölf fest eingeschlafen.«
Er schien beruhigt zu sein, sprach über etwas anderes und fragte schließlich, ob ich zur Beerdigung käme.
»Um wieviel Uhr ist sie denn?« wollte ich wissen.
»Um vierzehn Uhr ist die Trauerfeier in der Kapelle vom Ladenburger Friedhof, soviel ich weiß.«
»Das wird nicht gehen, ich kann nicht schon wieder freinehmen«, erklärte ich, denn ich hatte kein Verlangen, in so kurzer Zeit eine zweite Totenfeier mitzumachen. Wir verabschiedeten uns freundlich.
Ich mußte wieder ins Büro, obgleich es mir reichlich schwer fiel. Nichts von meiner Arbeit war delegiert oder gar vom Chef selbst übernommen worden, alles häufte sich auf meinem Schreibtisch, was ich in dieser Woche zu tun gehabt hätte.
Wäre ich doch ganze drei Wochen weggefahren, dann wäre das nicht möglich gewesen! Ich war für die nächste Zeit mit Überstunden eingedeckt. Langweilige Aktenberge würden meine Büro- und Freizeit ausfüllen. Die Gedanken an Verliebtheit, gutes Essen und Wandern waren weit weg, aber auch die Erinnerung an tote Frauen, an Gefahr und Nervenkitzel wurde von meinem Berufsleben ziemlich verdrängt. Früher hatte es mir nicht viel ausgemacht, auch mal abends einen wichtigen Fall zu bearbeiten. Wahrscheinlich durchlief ich jetzt gerade einen Schub des Alterns oder den endgültigen Beginn der Menopause, denn es fiel mir unendlich schwer, zeitig aufzustehen, den Tag über konzentriert zu arbeiten und noch am späten Abend Wäsche aufzuhängen und meine Tasse zu spülen. Fast vergaß ich, täglich an Witold zu denken, dem noch vor kurzem mein erster innerlicher Gruß am Morgen und mein letzter am Abend gegolten hatte.
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