»Sie wurde gestohlen, meine Mutter war untröstlich. Sie wollte sie ihrer ersten Enkelin vererben, ich habe ja keine Schwester. Nun, das wäre meine Tochter gewesen. Aber meine Mutter starb, bevor Annette geboren wurde, und die Brosche war längst nicht mehr da.«
Der Baeckaoffa wurde, würzig duftend, auf den Tisch gebracht. Alle griffen kräftig zu. Witold bestimmte, daß ich mir ein paar der Kartoffeln zerquetschen solle, ohne den köstlich eingedickten Weinsud. Ich aß auch ein paar Happen und übersah geflissentlich, wie sich Kitty und Ernst den ekligen Schweineschwanz teilten.
Es wurde getafelt und gebechert wie an den letzten zwei Abenden, die Stimmung war überaus heiter. Ernst Schröder hatte einen unerhörten Durst. Obgleich er wie ein Scheunendrescher über den Baeckaoffa herfiel, war er doch nach zwei Stunden sichtbar angetrunken und sehr redselig.
»Wenn ich die heutige Jugend sehe — speziell meinen vielversprechenden Filius —, dann muß ich vor Neid ganz blaß werden. Was der mit achtzehn Jahren schon alles an Frauen verschlissen hat, das kann ich in meinem ganzen Leben nicht mehr aufholen!«
Scarlett warf ihm einen skorpionhaften Blick zu.
»Mit siebzehn hatte ich mein erstes erotisches Abenteuer, aber dann lange nix mehr. Das war aber damals ganz ungewöhnlich früh«, sagte er angeberisch, »beim Anblick von Thyras Brosche fällt mir alles wieder ein!«
»Erzählen!« rief Witold lustig.
Scarlett zischte: »Du wirst geschmacklos, Ernst.«
»Also, das war schon ein dolles Ding«, fuhr Ernst unbeirrt fort, »ich war ein reichlich verklemmter Schüler, so wie wir das in den fünfziger Jahren alle waren. Eines Tages sprach mich auf dem Heimweg von der Schule eine junge Frau an, weil sie eine bestimmte Straße suchte. Es war zufällig die, in der ich wohnte. Noch größer war der Zufall, daß sie zu den Leuten im Souterrain unseres Mietshauses wollte. Dort war aber keiner zu Hause. Meine Eltern waren für drei Tage verreist. Ich bat das fremde Fräulein zu uns herein, damit sie einen Zettel für diese Leute schreiben konnte.«
Wir waren alle ganz Ohr.
»Ein Roman, den das Leben schrieb«, spöttelte Witold.
»Weiter«, bat Kitty.
Scarlett hatte es aufgegeben, ihren Mann unter dem Tisch zu treten.
Ernst, der große Don Juan, genoß sichtlich unsere Aufmerksamkeit.
»Ob ihr es glaubt oder nicht, ich — der völlig Unerfahrene — habe die noch viel Unerfahrenere gleich bei diesem ersten Zusammentreffen verführt!«
»Ich bin sprachlos!« sagte Witold, »Hakim, wenn du nicht lügst, bist du ein unerhörter Schwerenöter!«
Scarlett kniff jetzt Witold in den Unterarm.
»Du hast es gerade nötig, ihn dafür auch noch zu loben!«
»Wie ging es weiter?« wollte Kitty wissen.
»Meine Geliebte war mindestens acht Jahre älter als ich, damals hatte eine unverheiratete Frau über fünfundzwanzig wahrscheinlich schon Komplexe und Torschlußpanik.« — Ernst lächelte Kitty charmant an, um wiedergutzumachen, daß diese Bemerkung nicht besonders taktvoll war.
»Na ja, um es kurz zu machen: Wir liebten uns inbrünstig und bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Ich grüner Junge wollte sie natürlich heiraten. Aber um auf die Brosche zu kommen — ich klaute sie meiner Mutter und schenkte sie meiner Angebeteten als Liebespfand.«
»Und was ist aus der Frau geworden?« wollte Kitty wissen.
Ernst betrachtete die Brosche mit abwesendem Blick.
»Ich weiß es nicht. Sie zog plötzlich weg, schrieb mir einen Abschiedsbrief und hinterließ keine Adresse. Ich junger Spund kriegte nie heraus, wo sie hingegangen ist.«
»Meinst du denn, das ist die Brosche deiner Mutter?« fragte Witold.
»Mit Sicherheit wird man das nicht feststellen können, obgleich man bei so einem ausgefallenen Stück schon glaubt, daß nicht viele von dieser Sorte existieren.«
Witold nahm die Brosche wieder in die Hand. Auf einmal sah er Scarlett spitzbübisch an.
»Was meinst du, was ein richtiger Junge in seiner Hosentasche hat?«
Sie rümpfte die Nase: »Pfui Teufel, jetzt ziehst du gleich Blindschleichen und Molche heraus!«
Witold lachte. »Sehr schlecht geraten! Natürlich ein Schweizer Offiziersmesser!«
Er hatte das rote Prachtstück schon in der Hand.
»Thyra, darf ich mal vorsichtig mit dem kleinsten und feinsten Instrument die Rückseite von der Brosche ablösen?
Vielleicht ist zwischen der Goldplatte und dem Stein eine Locke, ein Juwelierszeichen oder eine Inschrift.«
Ich nickte, und er begann sehr zart, die vielen dünnen Goldzähnchen umzulegen. In die von außen nicht sichtbare Hinterwand war tatsächlich ein Monogramm eingraviert: E.S.
Ernst wurde ganz aufgeregt, es müsse der Name seiner Großmutter väterlicherseits sein, Elise Schröder.
»Das bedeutet«, sagte Ernst, »daß meine frühe Geliebte entweder tot ist und ihre Hinterlassenschaft von den Erben verkauft wurde, oder daß sie in große Armut geriet und sich davon trennen mußte.«
Scarlett meinte spöttisch: »Du siehst das aber sehr durch die romantische Brille! Vielleicht mochte sie deine Brosche nicht besonders, und vielleicht war ihr auch die Erinnerung nicht gar so heilig, wie du glauben möchtest.«
Man aß weiter, der Baeckaoffa blieb lange heiß.
»Wieviel hast du denn dafür bezahlt?« fragte Ernst, den das Thema weiter beschäftigte.
Ich zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht mehr genau, aber sie war sehr teuer.«
Witold interessierte sich für Antiquitäten. »Solche Sachen haben natürlich Liebhaberpreise, ich könnte mir denken, daß sie in einem Heidelberger Antiquitätenladen mindestens dreitausend Mark kostet.«
Ernst sagte sehr leise zu mir: »Ich würde dir die Brosche gern abkaufen, aber fühle dich bitte nicht unter Druck gesetzt, sondern überlege in aller Ruhe. Ich würde jeden Preis zahlen oder dir auch ein Schmuckstück nach deiner Wahl kaufen.«
Ernst Schröder war also der Vater von Frau Römers Tochter!
Verrückt war das schon; sah sie ihm ähnlich? Ich hatte diese Frau, die älter als Kitty war, erst einmal gesehen. Sie war Olegs und Annettes Halbschwester!
Mit einem gewissen Ekel sah ich Ernst Schröder an; er hatte Frau Römers Leben verpfuscht. Dann erinnerte ich mich an Scarletts großartige Geste, wie sie ihre goldfarbene Samtbluse verschenkt hatte.
»Ich mache keine Geschäfte mit dir, Ernst«, sagte ich mit eisigem Hochmut, »ich schenke dir die Brosche für deine Tochter.«
Das war ihm nicht recht. Er regte sich auf, aber immer mit begierigem Blick auf das Erbstück.
»Thyra«, sagte er, »ein solches Geschenk kann ich nie und nimmer annehmen. Wir gehen vor Weihnachten auf eine große Antiquitätenmesse, und du suchst dir dort etwas Wunderschönes aus. Aber du verstehst doch, daß dieses Stück für mich eine ganz persönliche Bedeutung hat?«
Die anderen hatten von unserem Handel nur mit halbem Ohr vernommen. Sie diskutierten über das morgige Programm.
Kitty wollte wieder möglichst lange durch Wald und Feld marschieren, aber diesmal war es Witold, der etwas anderes im Sinn hatte.
»Entweder Colmar oder Straßburg«, schlug er vor, »Kinder, wir können doch nicht eine Woche durchs Elsaß fahren und jegliche Kunst und Kultur dabei aussparen.«
»Na gut, dann Straßburg«, sagte Scarlett, »ich habe mir vor Jahren totschicke Schuhe dort gekauft, diesen Laden finde ich wieder.«
»Banausin«, spottete Witold.
Das Geburtstagskind bewunderte die braunglasierte Keramikterrine, die hübsch mit weißen Blümchen und grünen Blättern bemalt war. »So eine kaufe ich mir in Straßburg, das Rezept vom Baeckaoffa schreibe ich mir genau auf, und heute in einem Jahr lade ich euch alle zu einem Gedächtnisessen ein.«
»Na wunderbar«, sagte Ernst freundlich.
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