Wir drei »Mädchen« hatten das größere Zimmer. Ich saß auf dem breiten Fensterbrett und hatte das Restauranthäuschen im Blick. Fünf Katzen hatten sich vor der Tür versammelt. Sobald sie von außen geöffnet wurde, flitzten sie wie die Irrwische hinein. Wenige Minuten später wurde die Tür von innen geöffnet, ein Koch trat auf die Schwelle und warf die Katzen allesamt, eine nach der anderen, die Stufen hinunter. Das hinderte sie jedoch nicht daran, sich zu sammeln und mit dem nächsten Gemüsehändler oder Metzger erneut durchzuschlüpfen.
Nachdem wir die hübschen herbstlichen Bilder genug bewundert hatten, wurde die heutige Wanderung in Angriff genommen. Der Garten des Weingutes stand voller Sonnenblumen. Hunde und Kälber, Kinder und Winzer wuselten herum. Kitty freute sich wie eine Schneekönigin.
Der Koch lief uns nach. Ob wir heute abend Baekaoffa wünschten.
»Ja!« sagte Kitty.
Ich fragte schüchtern, was das wäre, denn mein Magen war nach dieser Nacht immer noch hochempfindlich. Der Koch sprach von Schweineschwanz, Hammelschulter und Rinderbrust, die er mit Kartoffeln, reichlich Zwiebeln und Knoblauch, Gewürzen und viel weißem Pinot stundenlang in einer irdenen Terrine in den heißen Ofen stellen würde. Meine Wanderkameraden begeisterten sich schon beim Zuhören.
Sollten sie sich nur immer ihren Schweineschwanz zu Gemüte führen, ich würde mir einen Haferbrei bestellen.
Auch das Wandern machte mir heute nicht viel Spaß. Ich hatte Magenkrämpfe. Zum Frühstück hatte ich nur Tee getrunken, und eigentlich wäre ich am liebsten im Hotel in diesem urgemütlichen Bauernbett geblieben, hätte das Fenster weit aufgemacht, ein wenig gedämmert und auf die fremden Laute von Mensch und Tier draußen gelauscht. Aber sollte man mich für eine alte Ziege halten, kränklich, säuerlich, eine Spielverderberin? Ich biß die Zähne zusammen und lief und lief…
Schließlich kam ich mir wie ein napoleonischer Krieger vor, der durch Rußlands endlose Steppen und Sümpfe marschiert, den sicheren Tod vor Augen.
Keiner merkte mir etwas an. Aber als ich drei Stunden lang nur »ja« und »nein« gesagt hatte, schaltete der stets pflegefreudige Witold schließlich doch, daß der Soldat Thyra nicht ganz auf dem Posten war. Ich gab zu, das gestrige Essen nicht vertragen zu haben. Witold holte aus seiner Anoraktasche einen Flachmann.
»Trink ein Schlückchen, das hilft!«
Weil er es war, der mir die scharf riechende Flüssigkeit unter die Nase hielt, gehorchte ich. Es war ein scheußlicher Kräuterschnaps, der aber wirklich half.
»Nun?« fragte er gespannt und wartete auf eine Erfolgsmeldung. Ich nickte matt.
»Paß auf«, sagte er, »wir steuern jetzt eine Straße an, dort winke ich einem Auto, und du fährst zurück ins Hotel!«
Wider Erwarten klappte es. Ein Lieferwagen voller Farbeimer und Malerutensilien hielt sofort an. Witold konnte nun auch sein perfektes Französisch an den Mann bringen und erklären, daß Madame von einem heftigen Unwohlsein befallen sei.
»Dann fahre ich auch mit«, sagte Scarlett plötzlich, »wenn ich noch mal drei Stunden zurücklatschen soll, dann wird mir das auch zuviel!«
Sie tat dem Fahrer gegenüber so, als wolle sie mich Schwerkranke betreuen, kletterte hinten hinein und setzte sich auf eine farbverschmierte Leiter. Sie winkte den anderen königlich zu, während ich mich unendlich erleichtert neben dem Fahrer auf den Sitz fallen ließ.
Scarlett plauderte in gräßlichem Französisch und unter heftigem Gestikulieren mit dem Fahrer, der durch seinen Rückspiegel mit ihr in Blickkontakt stand. Obgleich mir ihre vielen Fehler auffielen, wäre ich doch nie imstande gewesen, mich in dieser Sprache zu unterhalten. Als wir ankamen und uns bedankt hatten, sagte Scarlett: »Leg du dich mal gleich ins Bett, ich geh’ noch einen Kaffee trinken«, und verschwand im Restaurant.
Mir war es sehr recht. Frierend zog ich die Wanderkluft aus, den mausgrauen Jogginganzug an und das Federbett über die Ohren. Zehn Minuten später klopfte es. Ein kleines Mädchen von circa zehn Jahren trat mit wichtigem Gesicht an mein Bett, präsentierte mir in einem Körbchen eine Wärmflasche und erklärte, das schicke mir ihre Mutter. Ernsthaft nickte sie und verließ mich; natürlich konnte das bloß Scarlett organisiert haben. Das hätte ich diesem kaltschnäuzigen Vamp nicht zugetraut.
Etwas später kam sie selbst, auf einem Tablett trug sie Tee und Zwieback.
»Du mußt was in den Magen kriegen, sonst stehst du unsere Feier heute abend nicht durch«, sagte sie mit mütterlicher Strenge. Kritisch musterte sie mich.
»Große Passion für Schusters Rappen scheinst du im Gegensatz zu Kitty nicht zu haben. Wahrscheinlich bist du nur wegen seiner blauen Augen mitgekommen!«
Ich trank den Tee, mummelte etwas Zwieback und schlief kurz danach fest ein.
Gegen sieben Uhr wurde ich durch Flüstern wach, das schärfer in mein Unterbewußtsein eindrang, als es normale Lautstärke getan hätte. Scarlett lackierte sich die Krallen.
Kitty fragte: »Haben wir dich wachgemacht? Wie geht es dir denn?«
Mir ging es tatsächlich viel besser, ich bin ja eine zähe Natur. Ich setzte mich auf und fragte, wann denn gefeiert würde.
»Erst machen wir uns schön, Mädels!« sagte Scarlett und imitierte den Ton einer Turnlehrerin aus vergangenen Zeiten.
Ihre roten Haare waren frisch gewaschen und gelockt.
Kitty wühlte in ihrem Reisetäschchen und nahm eines der weißen Baumwollblüschen heraus. Scarlett pfiff.
»Hast du nichts anderes? Du wirst doch heute fünfunddreißig, da mußt du ausnahmsweise mal als Erwachsene auftreten!«
Kitty nahm nichts übel.
»Ich hab’ weder hier noch zu Hause eine Diva-Ausrüstung!«
Scarlett prüfte nun den Bestand ihres eigenen Koffers und holte eine schwere goldbraune Samtbluse heraus.
»Probier die mal, zu meinen roten Haaren paßt die Farbe gut, aber zu blond vielleicht noch besser. Ist ein teures Stück!«
Kitty zog das teure Stück an und sah bezaubernd aus.
Scarlett war neidlos hingerissen. »Ich schenke sie dir zum Geburtstag«, sagte sie großzügig.
Mich beeindruckte diese verschwenderische Geste, sie war meinem Wesen sehr fremd. Aber wegen der Bemerkung über Witolds blaue Augen hatte ich eine heftige Wut auf Scarlett.
Kitty zierte sich überhaupt nicht, die teure Bluse anzunehmen. Sie umarmte und küßte Scarlett und posierte eine Weile vor dem Spiegel. Schließlich wurde ich von den beiden angesteckt, denn auch Scarlett zog Kleidungsstücke an und aus und schubste Kitty übermütig vom Spiegel weg. Ich verließ also das gute Bett und den wärmenden Jogginganzug und machte mich schön. Als wir schließlich zu den Männern stießen, glänzte Kitty in Goldbraun, Scarlett in Smaragdgrün und ich in Hellblau; dazu trug ich Frau Römers Brosche.
Im Lokal saß mir Ernst Schröder gegenüber. Wie gebannt starrte er meine Brosche an, während Kitty und Witold von der Fortsetzung der Wanderung ohne uns Schlappmacher erzählten.
»Woher hast du diese Brosche?« fragte er und musterte mich kalt. Ich wollte nicht die ganze Story von Frau Römer preisgeben.
»Gekauft«, erwiderte ich kurz.
»Wo?«
»Auf einer Antiquitätenmesse«, log ich.
Ernst streckte die Hand aus: »Kann ich sie mal von nahem sehen?«
Ich nestelte das schwere Ding ab und gab es ihm.
Er betrachtete die Brosche eingehend.
»Seltsam«, sagte er.
»Was ist denn so seltsam?« fragte ich, während Zusammenhänge nebelhaft in mir auftauchten.
»Ach nichts«, meinte er, »meine Mutter hatte just die gleiche Brosche, haargenau dieses schwarze Hermesprofil.«
Witold mischte sich ein, nahm die Brosche ebenfalls prüfend in die Hand.
»Ende neunzehntes Jahrhundert«, schätzte er, »vermutlich noch von der Generation unserer Großeltern. Wer hat denn die Brosche deiner Mutter geerbt?«
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