In das Schweigen hinein vernahm man plötzlich Pamelas harte Stimme: »Rainer, das ist totaler Blödsinn. Wenn ihr auch nur den geringsten Wert darauf legt, daß ich mitkomme, dann werden keine Rucksäcke geschleppt!«
»Sondern?« fragte Witold.
»Mein Gott!« entfuhr es der Rothaarigen, »wir sind doch keine Schulklasse! Es wird wohl Möglichkeiten geben, unsere Koffer mit dem Auto zu transportieren. Ich jedenfalls fühle mich zu alt, um noch Wandervogel zu spielen. Am Ende denkst du auch noch an Zelt und Feuerchen machen, Rainer Engstirn, he?«
Witold beteuerte beleidigt, man werde selbstverständlich in Hotels übernachten, vielleicht ein einziges Mal in einer Jugendherberge mit Familienzimmern. Er breitete die Karte vor uns aus, seine Etappen waren mit orangenem Leuchtstift eingezeichnet.
Nun war es Ernst, der meuterte.
»Hör mal, Rainer, ist ja alles schön und gut. Aber wenn ich ans Elsaß denke, dann fällt mir in erster Linie gutes Essen und ein trockener Riesling ein. Warum sollen wir überhaupt so viel rumlaufen?«
Witold stöhnte. »Es ist doch nicht zu fassen! Wir planen gerade eine Wanderung, und dieser Mensch will überhaupt nicht laufen!«
Ernst Schröder war kein Spielverderber. Er mußte etwas lachen. »Rainer, klar will ich auch ein bißchen laufen, sonst schmeckt es mir doch gar nicht. — Und außerdem mußt du mein hohes Alter berücksichtigen!«
»Was sagt ihr dazu?« wandte sich Witold hilfesuchend an Kitty und mich.
»Ach, mir ist alles recht«, meinte Kitty, »ich kann lange wandern und auch einen Rucksack schleppen — das weißt du ja.
Aber ich finde es auch schön, in diesen herrlichen Gaststuben zu sitzen und Sauerkraut zu essen.«
Ich wußte nicht genau, was ich sagen sollte. Einerseits wollte ich Witold gefällig sein, aber andererseits fand ich es nicht erstrebenswert, mit einem schweren Rucksack über die Berge zu japsen.
»Ich bin keine trainierte Läuferin«, sagte ich.
»Also gut, also ohne Rucksack«, Witold sah seinen Freund forschend an, »aber dann müssen wir mit zwei Autos einen komplizierten Pendeldienst organisieren: mit Koffern und zwei Wagen jeden Morgen zum nächsten Ziel fahren, ein Auto dortlassen, mit dem anderen wieder zurück. Zu Fuß hinwandern und mit dem dortigen Auto das andere wieder holen — claro?«
Ernst lachte. »Rainer, du planst alles immer viel zu versiert und exakt. Wir können doch ganz einfach ins Blaue fahren. Am ersten Tag übernachten wir in Wissembourg und laufen dort ein bißchen in der Gegend herum, dann fahren wir nach Lust und Laune ein Stück weiter.«
Alle außer Witold nickten einverstanden. Er gab seufzend nach und räumte leicht gekränkt seine Karten und Wanderpläne wieder weg.
»Guck nicht so wie die Mater dolorosa«, sagte Scarlett.
Vermittelnd meinte Ernst: »Schaut mal zum Fenster raus, jetzt regnet es wie wild. Das könnte uns nächste Woche genauso passieren, dann ist es doch angenehm, wenn man Koffer, Auto und Hotel in Reichweite hat. Aber nun wollen wir endlich zum gemütlichen Teil kommen. Ich eröffne hiermit die Kaminsaison und mache ein Feuerchen, Pamela schmeißt uns dieweil was Gutes in den Backofen, und du, Rainer, machst mal den Rotwein auf.«
Nun entstand eine familiär-geschäftige Atmosphäre. Die Küche war in den Wohnraum integriert, der das ganze Untergeschoß ausmachte. Scarlett teilte Arbeit aus: Kitty schnitt am großen Eßtisch Zwiebeln und Tomaten, ich wickelte Riesenkartoffeln in Alu-Folie, nachdem ich sie sauber gebürstet, in der Mitte einmal durchgeschnitten und mit gesalzener Knoblauchbutter bestrichen hatte.
»Was gibt’s denn Leckeres?« fragte Witold gefräßig.
Die rote Hexe blies ihm Zigarettenrauch ins Gesicht.
»Ich kann kein Schlemmermahl richten, wenn ich vorher nicht weiß, wie viele wann und ob überhaupt welche kommen.
Es gibt ganz ordinär Kartoffeln, Hühnerbein und Tomatensalat.«
»Ist doch phantastisch«, lobte Witold und entkorkte Rotwein. Ernst saß in meditativer Stimmung am Kamin und sorgte dafür, daß das ganze Zimmer rauchte. Kitty bekam einen Hustenanfall und eilte an die frische Luft. Pamela beschimpfte ihren Mann, daß er Kittys empfindliche Lungen malträtiere, worauf er die vielen Zigaretten von ihr und Witold dafür verantwortlich machte.
Über dem Kamin stand auf einem hölzernen Bord eine alte eiserne Ofenklappentür, davor eine Sammlung von vielen rostigen Schlüsseln. Typisch Scarlett.
Im Backofen brutzelten Huhn und Kartoffeln, die Arbeit war getan, der Kamin brannte nun vorschriftsmäßig. Witold lüftete und holte Kitty wieder herein. Wir rückten alle um das Feuer herum und warteten auf das immer intensiver duftende Essen.
»Was macht dein Hahn?« fragte Ernst.
»Noch ein Weilchen«, antwortete Scarlett.
Kitty stimmte an: »Der Hahn ist tot, der Hahn ist tot«, und Witold setzte mit cremiger Stimme in Französisch ein. Den dritten Einsatz brummte Ernst. Ich schwieg, da ich diesen Kanon nur ungenau kannte und mich außerdem genierte.
»Los, Scarlett, du bist die einzige hier, die singen kann!
Warum schweigt unsere Nachtigall?« fragte Witold.
»Rainer, ich bin für euren Kinderchor nicht geeignet«, entgegnete Pamela.
Kitty sang unverdrossen das nächste Lied, und Witold stand ihr bei. Schließlich fragte er wieder: »Womit könnten wir denn deine Gunst und Kooperation erringen, holde Philomele?« und verneigte sich dabei tief vor Pamela.
»Wenn schon, dann ohne euer Gejaule«, meinte sie abschätzig, »ich singe doch nicht am Lagerfeuer ›kein schöner Land in dieser Zeit‹!«
Jetzt mischte sich Ernst ein. »Sie will mit Leidenschaft genötigt werden. Meine Damen und Herren! Sie hören jetzt die berühmte Brecht-Interpretin mit Songs»aus der Drei-Groschen-Oper!«
Auf einmal tat ich auch den Mund auf: »Ach bitte! Das Lied von der Seeräuberjenny!«
Scarlett sah mich nachdenklich an, dann nickte sie. Mit einer Handbewegung brachte sie alle zum Schweigen, ergriff einen Teller und ein Küchenhandtuch als Requisiten und schwang sich behende auf den eisernen Kasten, der neben dem Herd stand.
Alle waren von ihrem Vortrag hingerissen. Scarlett hatte zwar keine liebliche Singstimme, aber sie artikulierte hart und glasklar mit faszinierender Eindringlichkeit, so daß wir für kurze Zeit unsere gewärmte Bauernstube in ein lumpiges Hotel verwandelt sahen und die gerade noch kochende Hausfrau in eine Milva. Der Beifall war frenetisch, aber die Primadonna gab keine Zugabe, sondern piekste mit einem Stäbchen in Kartoffeln und Fleisch, ob der gewünschte Weichheitsgrad erreicht war. Ich geriet in einen Taumel zwiespältiger Gefühle.
Durch Witold lernte ich Menschen kennen, wie sie mir im Versicherungsbüro nie über den Weg gelaufen wären! Wenn ich doch auch so eine verrucht-verräucherte Sünderinnenstimme hätte wie die fuchsige Exotin, wenn ich doch irgend etwas so gut könnte, daß alle Beifall klatschen würden!
Doch, dachte ich, ich kann etwas, es weiß nur keiner; ich habe mehr Macht als die anderen alle zusammen. Aber leider jubeln sie nicht mir zu, sondern der Rothaarigen. Auch wenn sie mein Lied für mich gesungen hatte, konnte ich ihr den Erfolg nicht verzeihen.
Nun wurde das Essen aufgetragen. Witold legte sich eine Küchenschürze über den Unterarm und servierte artig.
»Wünschen Gnädigste noch ein Hinkelchen? Geruhen El Hakim noch einen Rotspon zu süffeln?«
Der Tisch war ohne Tischtuch gedeckt, die Hausfrau hatte ihn nur mit einem suspekten Lappen von Asche und Zwiebelschalen befreit. Mir fiel mein gepflegtes, steifes Diner für Witold ein, und ich schämte mich rückwirkend.
Unsere beiden Stimmungskanonen waren in Form. Kitty gackerte nach zwei Gläsern Wein wie ein übermütiges Mädchen, und Ernst entwickelte einen bärenhaften Charme.
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