Das Ehepaar Mommsen erschien nicht.
»Bevor der angekündigte Regen einsetzt, sollten wir uns noch ein wenig die Beine vertreten«, ordnete Witold an. Der Himmel bewölkte sich. Aus den drei Autos wurden zwei Schirme geholt, im Haus war noch ein weiterer. Witold hatte zusätzlich eine Wetterjacke dabei. Für alle Fälle waren wir nun gegen den Regen gerüstet, denn Pamela wollte nicht mit Spazierengehen, sondern auf die Mommsens warten und das Geschirr spülen.
Wir liefen also los. Zu meinem großen Bedauern war Witold mit seinem Freund im Nu ein Stück voraus, und wenn Kitty und ich ihnen durch beschleunigtes Gehen in Reichweite kamen, schienen sie sofort einen Zahn zuzulegen. Kitty lachte.
»Die beiden müssen über den Oleg reden!«
Wer war Oleg? Kitty erklärte mir, daß die Schröders zwei Kinder hätten, die fünfzehnjährige Annette und den achtzehnjährigen Oleg. Der Junge sei ein intelligenter Tunichtgut, bereits zweimal sitzengeblieben, jedoch sehr frühreif, was seine skandalösen Frauenaffären anginge. Ernst wolle sicher aus Rainer Engstern herausquetschen, was man im Lehrerzimmer für Klagen hatte. Ich fragte Kitty, ob sie ihn auch unterrichte.
»Ja, bei mir hat er Geschichte und bei Rainer Französisch.
Ich persönlich kann seinem Charme schlecht widerstehen, irgendwie kommt er bei mir immer mit einem blauen Auge davon.«
Kitty war mir sympathisch, ungeachtet meiner Ängste, daß sie es auf Witold abgesehen hatte. Sie war klein und drahtig, ein Pfadfindermädchen mit gesunder Gesichtsfarbe; ihr Äußeres war unauffällig, ihre Kleidung verhalten. Sie beobachtete mit kritischen Augen, manchmal spöttisch, aber niemals bösartig. Zuweilen machte sie eine trockene Bemerkung, die überaus witzig war. Ich hatte das Gefühl, einem zuverlässigen, ein bißchen introvertierten Menschen zu begegnen. Kitty schien nicht verheiratet zu sein, was eigentlich verwunderlich war.
Erst als wir fast wieder im Bickelbacher Holzweg angekommen waren, blieben die Männer stehen und warteten auf uns. Nun ging Kitty mit Ernst Schröder voran, um mit ihm den Oleg zu besprechen. Ich trödelte absichtlich, um Witold noch einige kostbare Minuten ganz für mich zu haben. Ich fragte ihn nach Kitty.
»Eine sehr liebe Kollegin«, betonte er, »allgemein geschätzt.
Wir haben früher mehrere Klassenfahrten zusammen gemacht, da sind wir ein perfektes Gespann gewesen.«
Der Pferdevergleich paßte zu Kitty, obgleich sie sicherlich kein Ackergaul, sondern ein freundliches Pony war.
»Ist sie verheiratet?«
»Aber nein, erstaunlicherweise hat sie noch nicht den Richtigen gefunden. Aber Kitty stellt eben Ansprüche, und das mit Recht«, stellte er fest. Ob sie ihn für den Richtigen hielt?
»Und wie ist es mit Vivian gelaufen?« fragte ich, bestimmt etwas zu indiskret.
Aber Witold sprach nicht ungern über Intimitäten. Sein Gesicht nahm einen ärgerlichen Ausdruck an.
»Unsere letzte Aussprache war sehr unerfreulich. Ich weiß gar nicht, ob ich in diese Beziehung noch investieren soll; der Altersunterschied macht sich eben doch bemerkbar. Kann sein, daß Vivian sich unter Freundschaft etwas anderes vorstellt als ich. Wie es nun weitergehen wird, weiß ich nicht — vielleicht geht es eben nicht mehr weiter.«
Wir schwiegen beide. Das Häuschen tauchte auf.
»Bevor wir dort sind, Witold«, sagte ich leise und schnell, »sag mir um Gottes willen noch rasch, wie diese Pamela ist!«
Witold liebte solche Fragen und grinste.
»Die hat Feuer im Arsch«, sagte er, und ich errötete. »Die Scarlett wollte mal Schauspielerin oder Sängerin werden, daraus ist nichts geworden. Nun ist sie halt Mutter und Apothekers Gattin.«
Nach einer kleinen Gedankenpause sagte er wie zu sich selbst: »Vor ein paar Jahren…«, er sprach nicht weiter. Ich sah ihn fragend an.
»Ach nichts«, er lächelte versonnen, und mir lief eine leichte Gänsehaut über die Arme.
Das Häuschen war nun gut zu sehen, ein weiteres Auto parkte auf der Wiese.
»Na, da sind ja deine Freunde«, sagte ich zu Witold, »wie klug, daß du mit der Wanderplanung noch gewartet hast.«
»Das sind sie nicht«, verbesserte mich Witold, »das ist nämlich Scarletts Auto. Vielleicht sind es die Kinder.«
Wir hatten Ernst und Kitty eingeholt. Ernst verzog das Gesicht, er teilte uns mit, der Sohn habe vor einer Woche den Führerschein gemacht, aber eigentlich nicht die Erlaubnis erhalten, mit dem Wagen seiner Mutter herumzukurven. Im Haus saßen Pamela Schröder, der berühmte Oleg und seine Schwester vor den Resten des Zwetschgenkuchens, der beachtlich geschrumpft war.
»Was ist los?« fragte Ernst.
Annette maulte: »Ach Papa, seit gestern habe ich so schreckliche Halsschmerzen, und im ganzen Haus ist nicht eine Lutschtablette.«
»So ist das halt bei Apothekers«, warf Witold ein.
Die Mutter der Sprößlinge war etwas gereizt. »Wenn es schon seit gestern früh so schlimm war, warum kommst du denn jetzt erst auf die Idee, nach Tabletten zu fragen?«
Oleg behauptete: »Sie wollte den Papa nicht an seinem freien Tag belästigen. Aber jetzt mußte ich sie einfach herbringen, so schlimm ist es geworden.«
Witold zwinkerte ihm zu.
Ernst seufzte: »Na, komm mein krankes Schätzchen, deine Schmerzen haben dich ja nicht daran gehindert, den Kuchen zu spachteln. Im Auto habe ich wahrscheinlich Medikamente.«
Pamela warf ihrem Sohn einen heftigen Blick zu: »Meinst du etwa, dieses Spiel wäre nicht allzu durchsichtig? Auf einmal machst du auf Bruderherz, nur weil du mit meinem Auto fahren willst!«
Oleg widersprach. Er hätte ja auch eine Spritztour nach Frankfurt machen können — dann hätten die Eltern das gar nicht gemerkt — und nicht ausgerechnet nach Bickelbach.
Annette und ihr Papa kamen wieder herein, setzten sich nebeneinander auf die Eckbank, und die Tochter kuschelte sich an den Vater. Ernst strahlte.
Oleg hatte inzwischen eine liebenswürdige Plauderei mit seiner Geschichtslehrerin begonnen, Witold durch mehrere Witze zum Lachen gebracht und seinem Vater die Erlaubnis abgeluchst, zwei Flaschen Wein für eine Party mitzunehmen.
Scarlett wollte, daß die Kinder noch im Hellen heimfuhren, da sie Olegs Fahrkünsten nicht so recht traute.
»Wenn ihr endlich ein Telefon in Bickelbach hättet, dann könnten wir ja von zu Hause anrufen, daß wir lebend angekommen sind«, bemerkte Oleg diplomatisch fordernd, da dies anscheinend ein altes Thema war.
Endlich zogen die Gören ab. Ich hatte die Hoffnung gehegt, daß wir jetzt zur Sache kämen. Aber die stolze Mutter nahm den Besuch ihrer Kinder zum Anlaß, ausführlich ihre Vorzüge zu schildern. Annette: Noch ein richtiges kleines Mädchen, so anhänglich und lieb, im Gegensatz zu ihren Freundinnen noch ohne Freund und diesbezüglich reizend kindlich. Mir stieg die Wut hoch. Aber nun kam das Söhnchen dran. Er spielte Schlagzeug in einer Schüler-Band, und wir vernahmen, daß ein echter Künstler in ihm steckte. Ich hatte Lust zu gehen. Aber schließlich war ich hier, um demnächst mit Witold zu wandern, da mußte ich so etwas vorerst ertragen. Es konnte heiter werden, wenn diese Frau die ganze Zeit von ihren verwöhnten Kindern sprechen wollte, die sie ja offensichtlich bedenkenlos allein ließ.
Witold war es, der unterbrach.
»Da der Familie Mommsen anscheinend irgend etwas dazwischengekommen ist, wollen wir jetzt mit der Lagebesprechung anfangen.«
Ernst grinste mir zu. »Vorsicht, Lehrer!« flüsterte er. Witold nahm aus einer Aktentasche Kartenmaterial und fotokopierte Bögen, die er verteilte.
»Ich habe für jeden Teilnehmer eine Liste gemacht, was er unbedingt dabei haben sollte, da ja nicht jeder so erfahren im Wandern ist wie wir beide«, er wandte sich an Kitty. »Ich hoffe, ihr habt alle einen Rucksack?«
Ich schüttelte den Kopf. Die anderen lasen ihre Listen.
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