»Und wenn sie nun ihrerseits ihrem Freund Jürgen eine Trennung vorgeschlagen hat?« warf ich eine neue Version in die Waagschale.
»Könnte sein, aber es wäre kaum ein Grund, sie gleich in den Abgrund zu stürzen. Aber ich sagte ja schon, daß wir diesen Herrn Jürgen Faltermann überprüfen, sein Alibi hätten wir gern etwas konkreter nachgewiesen. — Ist Ihnen vielleicht sonst noch irgend etwas aufgefallen, was eben nicht zur Sprache kam?«
Ich verneinte und fragte, ob man also letzten Endes an einen Unglücksfall denke.
»Ehrlich gesagt«, meinte der Polizist, »ich persönlich glaube das nicht. Wer fährt schon mutterseelenallein in den Wald und trinkt Sekt auf einem Turm! Das macht man doch nicht. Ich glaube, daß irgend jemand dort bei ihr war, der sich aber nicht zu erkennen gibt. Wenn dieser Jemand ein reines Gewissen hätte, würde er sich melden. Ob es nun Mord, Selbstmord oder ein Unfall war, kann also im Augenblick nicht geklärt werden.
Wenn Sie mich aber so direkt fragen, mein Tip ist Mord«, unter diesen Worten gab er mir die Hand, steckte seine Aufzeichnungen weg und verabschiedete sich.
Kaum hatte ich meine Ausgehkleider abgelegt und vorsichtshalber nicht die schlimmsten Fetzen, sondern Hosen und Pullover angezogen, da schellte es. Witold? Nein, es waren Frau Römer und der Dieskau, der mich mit überschwenglicher Freude begrüßte. Frau Römer war atemlos vom Treppensteigen, aber stolz darauf, daß sie — die Kranke — mich, die noch Kränkere, besuchte. Wenn mir nicht gar so mies zumute gewesen wäre, hätte ich mich gefreut.
Frau Römer hatte ebenfalls übers Büro von meiner Krankheit erfahren und brachte mir nun einen Rosenstrauß und einen Kriminalroman (welche Ironie, dachte ich) und die Grüße des Chefs, mit dem sie gesprochen hatte. Sie erzählte mir lange von ihren Plänen: Irgendwann in der nächsten Zeit wollte sie nach Amerika zu ihrer Tochter reisen. Ich erfuhr alles von ihrer Kur, von den Zimmergenossinnen im Krankenhaus und dergleichen mehr. Ich konnte mich schlecht konzentrieren.
»So gut wie jetzt ging es mir schon lange nicht«, sagte die herzkranke und brustamputierte Frau Römer, »ich fühle mich relativ wohl, ich habe Zeit für mich und brauche vielleicht nie mehr ins Büro zurück. Sicher habe ich noch ein paar gute Jährchen vor mir.«
Nach einer Krebserkrankung fand ich diese Haltung erstaunlich. »Frau Römer«, sagte ich weinerlich, »Sie haben allerhand eingesteckt im Leben und behalten trotzdem Ihren Optimismus. Das geht mir ganz ab.«
Sie betrachtete mich eindringlich. »Eine schwere Krankheit bringt auch neue Impulse, überhaupt alles Schwere, das man übersteht! Hören Sie, Frau Hirte, wichtig ist: Niemals aufgeben!« Und beschwörend nahm sie meine Hand, als wüßte sie, was in mir vorging.
Ja, ich darf nicht aufgeben, sagte ich laut vor mich hin, als ich wieder allein war. Es ist noch gar nichts verloren. Erstens kommen sie mir nicht auf die Spur, noch nicht einmal der leiseste Verdacht liegt gegen mich vor, geschweige denn irgendein Beweis. Und zweitens ist Witold zwar im Moment in Vivian verliebt, aber wird das lange anhalten?
Vivian! Ich hatte sie kennengelernt, als sie acht Jahre alt war.
In der Pubertät wurde sie überaus schwierig. Sie hatte die Scheidung sehr schwer genommen. Der Vater war ihr Idol gewesen, und nun ließ sie es zeitweise an Beate aus, daß er nicht mehr da war. Damals trug sie nur Klamotten, die man nicht einmal dem Roten Kreuz angeboten hätte. Sie lief in einem abgewetzten Plüschmantel herum, in dem sie wie ein Teddybär in der Mauser aussah. Beate ertrug das mit Anstand; ich wäre ausgerastet. Dann fing sie an zu haschen und zu trinken, und schon mit sechzehn Jahren kam sie so manche Nacht nicht heim. Eine feine Braut hatte sich Witold da angelacht. Aber ich mußte zugeben, daß Vivian heute eine aparte Erscheinung war. Tiefschwarze Haare, eine helle Haut und große Augen, die allerdings hemmungslos ummalt waren.
Ihre pubertäre Lumpenkleidung hatte sie unter geflissentlicher Verachtung des guten Geschmackes im Laufe der Zeit umkultiviert, so daß sie inzwischen wie eine Juliette-Gréco-Nachzucht anzusehen war. Vivian war mit dem Studieren noch lange nicht fertig, sie besuchte in Frankfurt die Kunstakademie oder tat wenigstens so. Sonntags fuhr sie meistens mit der Bahn nach Darmstadt zu ihrem Bruder Richard, und beide rückten dann in dessen Schrottauto bei Beate an. Lessi, die in Heidelberg Sport studierte, war dagegen unentwegt zu Hause und schaffte dort Unordnung. Ich hatte mich für die Kinder meiner Freundin nie sonderlich interessiert, aber wohl oder übel mußte ich mir bei jedem Zusammentreffen anhören, was Beate über ihre Herzchen zu berichten hatte.
Wie konnte sich ein Mann von Witolds Niveau in eine Zigeunerin wie Vivian verlieben? Soweit ich informiert war, hatte es Vivian im Laufe von zehn sexuell aktiven Jahren auf eine unüberschaubare Zahl von Liebhabern gebracht. Selbst die tolerante Beate wollte nicht bei jedem sonntäglichen Familienessen ein neues Gesicht sehen und hatte verlangt, daß Vivians Freund mindestens drei Monate lang ein und derselbe blieb, bevor er angeschleppt wurde. Diese Forderung hatte ihre Tochter dazu veranlaßt, zwei Jahre lang fast gar nicht mehr aufzutauchen. Aber solche Mätzchen schienen überwunden, das Verhältnis von Mutter und Tochter hatte sich normalisiert, ja es war zuletzt eher liebevoll zu nennen gewesen.
Witold rief wirklich noch an. Er schien doch so etwas wie freundschaftliche Gefühle für mich zu entwickeln, wenn sie auch noch weit von Liebe entfernt waren. Nachdem er sich teilnahmsvoll nach meiner Befindlichkeit erkundigt hatte, erzählte ich ihm, daß ein Polizeibeamter bei mir gewesen sei.
Er wollte alles genau wissen, aber ich verschwieg ihm, daß der Polizist an Mord glaubte.
»Weißt du, Thyra«, meinte Witold, »ich glaube ja inzwischen auch, daß Beate eine Schwäche für mich hatte.
Aber ich kann mir doch nicht recht vorstellen, daß sie erst einkaufen und schwimmen geht und sich dann das Leben nimmt. Außerdem hätte sie einen Brief an die Kinder hinterlassen. Eine Kurzschlußreaktion scheidet meiner Meinung nach aus, wenn man zuvor Sauerbraten, Weißkohl und Spätzle einkauft. Ein gut durchdacht er Einkaufszettel lag im Portemonnaie.
Aber noch etwas anderes fiel mir ein: Damals, als ich Beate auf der Weinkerwe kennenlernte, bin ich doch mit ihr auf die Schiffschaukel gestiegen. Schwindlig werde sie nie, das hat sie fast zu sehr betont. Es könnte ja sein, daß sie sich darin überschätzt hat: Sie ist auf dem Rand des Aussichtsturms herumbalanciert, hatte vorher aber Sekt getrunken und verlor das Gleichgewicht. Was meinst du dazu?«
»Ja, das könnte schon sein«, versicherte ich. Mit dem Rumturnen kam er nahe an die Wahrheit heran. »Beate wollte bei jeder Gelegenheit ein bißchen turnen und klettern, aber schließlich war sie auch nicht mehr siebzehn.«
»Ganz genau«, stimmte mir Witold zu, »sie war nicht mehr die Jüngste. Sie hätte ihr Alter akzeptieren und solche Eskapaden lassen sollen.«
Das mußt du gerade sagen, dachte ich. Ich ärgerte mich.
Schließlich war ich im gleichen Alter wie Beate, und er war nun auch nicht meilenweit davon entfernt.
Ich hörte am Telefon, wie er an seiner Zigarette zog.
»Thyra«, ging es wieder weiter, »könntest du dir vorstellen, daß dieser Jürgen Faltermann deine Freundin runtergestoßen hat? Beates Kinder halten wenig von ihm und sind ihm eher aus dem Weg gegangen.«
»Ich kenne Herrn Faltermann nicht besonders gut«, sagte ich vorsichtig, »so was traue ich ihm eigentlich nicht zu, aber weiß man, was in einem Menschen vorgeht…«
»Würdest du mir einen Mord zutrauen?« fragte Witold, »na ja, lassen wir das lieber.«
Ich dachte, daß sein Telefon vielleicht immer noch abgehört wurde, und fand es gar nicht gut, wenn man am Ende auf mich aufmerksam würde.
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