Endlich war ich bei meinem Wagen, um halb vier war ich zu Hause. Ich gönnte mir keine Ruhe, bevor ich nicht mein Glas, die beiden Teller und die Thermoskanne gespült und weggeräumt hatte, den Korb verstaut, den Revolver versteckt, alle Essensreste vernichtet hatte. Dann ging ich unter die Brause und füllte die Waschmaschine mit der Kleidung des heutigen Tages, vorsichtshalber auch noch mit anderer Wäsche, die zu waschen war.
Als das alles erledigt war, fühlte ich mich ein wenig erleichtert.
Um neun Uhr abends ging das Telefon, ich hatte so etwas erwartet. Ich ließ es ein paarmal läuten. Lessi war daran.
»Hast du eine Ahnung, wo meine Mutter ist?«
Ich verneinte, fragte, warum.
»Weißt du, Rosi«, Lessis Stimme hatte den gleichen Tonfall wie die ihrer Mutter, »ich war mit Beate verabredet. Wir wollten zu Richard nach Darmstadt fahren und ins Theater gehen. Aber sie ist überhaupt nicht hier, auch ihr Auto fehlt.
Ich finde das irgendwie komisch, denn sie hat den Theaterbesuch in ihrem Terminkalender eingetragen. Ich vergesse so was ja manchmal, aber sie verschlampt eigentlich nichts.«
Ich war nicht imstande, Lessi zu beruhigen, versicherte nur, ich hätte keine Ahnung, und es würde sich sicher alles aufklären. An diesem Tag rief niemand mehr an.
In der Nacht wurde ich krank. Ich bekam Fieber, Erbrechen und Durchfall, konnte weder schlafen noch die Beruhigungstabletten mitsamt dem Kamillentee bei mir behalten. Ich wanderte vom Bett ins Klo und in die Küche, fror und schwitzte gleichzeitig und wußte, daß mein Organismus der psychischen Belastung nicht standhielt.
Am Sonntag wurde es nicht besser. Ich versuchte mir vorzustellen, daß ich ein Recht auf Glück und Liebe hätte und deswegen so hatte handeln müssen. Aber diese Theorie kam mir sehr fragwürdig vor. Beate! Ich trauerte um Beate, ich weinte und fieberte um meine einzige Freundin, ich sah sie zerschmettert auf dem steinigen Waldboden liegen. Ich hatte etwas getan, das ich nie wieder rückgängig machen konnte. Bei Hilke Engstern hatte ich kaum Gewissensbisse empfunden, aber bei Beate wurde ich fast wahnsinnig.
Außerdem hatte ich grauenhafte Angst. Ich konnte mich im Augenblick überhaupt nicht zusammennehmen; wenn irgend jemand käme, der auch nur den geringsten Verdacht hätte, mein Verhalten würde ihm sofort rechtgeben.
Montag morgen ging es immer noch nicht besser; ich rief im Büro an und meldete mich krank. Eine Darmgrippe, gab ich an.
Man wünschte mir gute Besserung, und ich sollte bloß nicht zu früh wieder aufstehen und im Betrieb erscheinen, bei meinem ehernen Pflichtbewußtsein müßte man das mal betonen.
Ob es richtig wäre, ganz beiläufig bei Beate anzurufen, nach ihr zu fragen? Erstens, um zu zeigen, daß ich fest mit ihrer Anwesenheit gerechnet hatte, zweitens um zu erfahren, ob man sie gefunden hatte und ob Ermittlungen angelaufen waren.
Aber ich konnte nicht anrufen, nicht sprechen, nicht weinen, nur weiterhin mit den Zähnen klappern und mich übergeben.
Meine Bürokleidung ist immer tipptopp. Auch alle anderen Sachen, die ich für meine Auftritte außerhalb meiner vier Wände anziehe, sind gepflegt und ordentlich. Wenn ich aber in meinem einsamen Bett liege, brauche ich auf keinen Rücksicht zu nehmen. Meine Nachthemden sind, ich gebe es zu, alt, lumpig und überaus gemütlich, was kein Grund für mich ist, sie in den Rotkreuzsack zu stecken. Als ich zur Kur mußte, habe ich mir zwei neue Schlafanzüge gekauft, die seitdem im Schrank liegen und auf eine Chance warten. Könnte sein, ich müßte mal ins Krankenhaus, dann würde ich darauf zurückgreifen.
An jenem Montag, am späten Nachmittag, hing ich also krank und welk in meinem ältesten Blümchenhemd mit den bräunlich versengten Bügelflecken im Sofa und blätterte im Fernsehprogramm. Ich las immer wieder die gleiche Stelle, ohne auch nur ein Wort im Kopf aufzunehmen. Da schellte es!
Nicht aufmachen! war mein erster Gedanke. Und weiter: So häßlich, wie ich im Augenblick bin, sollte mich keine Menschenseele zu Gesicht bekommen! Aber es fiel mir ein, daß ich mich offiziell krank gemeldet hatte; es war immerhin möglich, daß der Chef den eiligen Vorgang auf meinem Schreibtisch einer Kollegin in die Hand gedrückt hatte und sie Fragen dazu stellen wollte. Aber hätte sie dann nicht angerufen? Oder war es der Chef selbst? Ausgeschlossen; ich fehlte schließlich nie, beim ersten kranken Tag brauchte er mich weder zu kontrollieren noch mir Blumen zu bringen. Also dann die Polizei.
Ich fuhr in einen räudigen Bademantel und schlappte, kalten Schweiß auf der Stirn und übel aus dem Halse riechend, an die Wohnungstür. Ich drückte auf den Knopf und machte auf.
Witold stand direkt vor mir, die Haustür war unten nicht verschlossen gewesen.
»Mein Gott, Thyra, du siehst ja elend aus!« rief er. »Ich habe in deinem Büro angerufen und gehört, daß du krank bist. Du mußt schon entschuldigen, daß ich so hereinplatze, noch dazu, wo es dir offensichtlich schlecht geht.«
Ich wies mit der Hand ins Wohnzimmer und ahnte, daß sein Kommen nichts Gutes bedeutete.
Er kam rein und warf einen hurtigen Blick durch den Raum.
»Thyra, setz dich hin, du siehst sehr fiebrig aus. Soll ich dir einen Tee kochen?«
Wie wunderbar wäre es gewesen, wenn ich sein Kommen geahnt hätte. Dann wäre ich in den lasziven seidenen Schlafanzug, der an alte Greta-Garbo-Filme erinnert, geschlüpft, hätte gebadet und die klebrigen Haare gewaschen und mindestens zehn Minuten lang die Zähne geputzt.
Ich ließ mich aufs Sofa fallen und sah ihn mit meinen roten Augen an. Witold blieb weiter so fürsorglich.
»Du wunderst dich sicher, daß ich so unangemeldet hereinschneie. Leider muß ich dir etwas sehr Trauriges mitteilen, das ich nicht am Telefon sagen wollte.«
»Was denn?« wollte ich herausbringen, aber es war wohl gar nicht zu hören.
»Deine Freundin Beate ist verunglückt«, sagte er mit sanftester Frauenarzt-Stimme.
Ich wurde immer blasser, kein Wort kam aus meiner Kehle, ich wünschte mir, ohnmächtig zu werden, aber trotz der Schwärze vor meinen Augen wollte es mir nicht gelingen.
Witold kniete vor dem Sofa, fühlte meinen Puls, eilte ins Bad und holte einen naßkalten Waschlappen, den er mir unerbittlich auf die Stirn tropfen ließ. Nur nicht den Mund öffnen, ich habe doch vor kurzem erbrochen, dachte ich.
»Ich Idiot«, schalt sich Witold, »ich hätte dir das bei deinem hohen Fieber gar nicht sagen dürfen«, er lief in die Küche und holte ein Glas Wasser.
Ich nippte daran und hoffte, daß er sich zwei Meter von mir entfernen würde, was er schließlich auch tat, als die Farbe ein wenig in mein Gesicht zurückkehrte.
Sicher erwartete er, daß ich Fragen stellte.
»Ist sie tot?« hauchte ich.
Witold nickte.
»Auto?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich erzähle es dir ein andermal«, wich er aus.
»Nein, ich will jetzt alles wissen«, sagte ich, denn so mußte man reagieren.
»Am Samstag rief mich Lessi an, ob ich wüßte, wo ihre Mutter ist. Dich hat sie sicher auch angerufen, denn sie hat das ganze Adreßbüchlein von Beate durchtelefoniert. Nun, die Kinder waren wohl am Sonntag alle zu Hause und überlegten, ob sie die Polizei benachrichtigen sollten. Das erübrigte sich, weil die Kripo mit der schrecklichen Nachricht ins Haus kam.
Man hat Beate im Wald gefunden, sie ist von einem Aussichtsturm gestürzt.«
»Wie ist das passie rt?«
Witold griff nach einer Zigarette, sah mein leidendes Gesicht und steckte sie wieder weg. Er zögerte.
»Es ist nicht genau zu rekonstruieren. Beate war offensichtlich am Samstag vormittag einkaufen gewesen und dann schwimmen. In ihrem Wagen, der in der Nähe des Turms stand, wurden ihre Badesachen und der Wochenendeinkauf gefunden. Warum sie aber dorthin gefahren ist, bleibt ein Rätsel. Eine leere Flasche Sekt und Splitter von einem Glas lagen herum, aber das könnte auch von anderen Leuten stammen. Die Frage ist nun, ob sich Beate an diesem Ort mit jemandem verabredet oder sogar getroffen hat. Ich wollte dich fragen, Thyra, litt Beate unter Depressionen?«
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