»Emily?«
»Ja. Tut mir leid, dass ich Sie geweckt habe.«
Libby setzte sich auf den Bürostuhl und schaltete die Lampe ein. »Schon gut. Ich wollte ohnehin gleich aufstehen.« Das stimmte nicht. Sie und Tristan waren erst nach ein Uhr eingeschlafen. Sie räusperte sich und versuchte, geschäftsmäßig zu klingen. »Ich nehme an, Sie haben sich den Katalog inzwischen angeschaut.«
»Ja, und ich bin begeistert, Libby, ich kann gar nicht sagen, wie sehr. Ich hatte gewisse Bedenken, weil ich befürchtet habe, dass Ihnen die neue Richtung nicht gefallen könnte. Sie haben den Katalog so lange auf die traditionelle Weise gestaltet. Aber jetzt habe ich gesehen, dass Sie nicht nur meiner Meinung sind, sondern meine Ideen wirklich verstanden haben. Sie haben verstanden, was ich empfunden habe.«
Libby lächelte. »Ganz sicher.«
»Mark hätte ihn gehasst.«
»Ich weiß.«
Emily ahmte auf geradezu unheimliche Weise seine tiefe Stimme und den typischen Tonfall nach. »Winterbourne steht für Tradition. Unsere Kunden wollen Tradition und verlangen sie auch.« Sie lachte und sprach mit ihrer eigenen Stimme weiter: »Er konnte manchmal furchtbar altmodisch sein.«
Libby lachte mit ihr. »Ich weiß, was Sie meinen.« Dann fragte sie sich sofort, ob sie zu weit gegangen war, ob Emily den liebevollen Ton und das selbstverständliche Wissen bemerken würde.
»Ich habe mich übrigens für Sie umgehört. Wegen der Aurora .«
»Und?«
»Wie es scheint, wollte Arthur Winterbourne den Amtsstab persönlich überbringen, weil er krankhafte Angst vor Dieben hatte. Er wollte ihn nicht aus den Augen lassen. Auch war nicht klar, wann die Firma das Geld erhalten würde. Als er verlorenging, war sich niemand sicher, ob er noch den Winterbournes, der Königin oder dem australischen Parlament gehörte. Sollte man ihn jemals entdecken, könnte das zu einem ziemlichen Durcheinander führen.«
»Verstehe.«
»Außerdem habe ich herausgefunden, dass Arthurs Frau Isabella mit an Bord war.«
»Isabella?« Das geheimnisvolle »I«.
»Ja, die Ärmste. Sie war halb so alt wie er. Sie hatten ein Kind, das sehr jung gestorben ist. In den Familienunterlagen ist kaum etwas über sie zu finden. Vermutlich ist sie zusammen mit ihrem Ehemann ertrunken.«
Libbys Herz machte einen Sprung. Nein, sie war nicht mit ihrem Ehemann ertrunken. Sie wollte es Emily schon erzählen, besann sich aber. Im Augenblick war alles noch reine Spekulation. »Vielen Dank«, sagte sie stattdessen. »Das verleiht einer alten Legende eine neue Dimension.«
»Ich frage mich, ob Mark sich jemals das Wrack angesehen hat.«
»Er hat mir davon erzählt.«
»Tatsächlich? Mir gegenüber hat er es nicht erwähnt. Aber er hat mir wohl ohnehin nicht alles erzählt. Jedenfalls nicht, wenn es um Geschäftsreisen ging.«
»Ich vermute, er hat es nur erwähnt, weil ich in der Gegend aufgewachsen bin.«
»Ja, das kann gut sein. Es tut gut, mit Ihnen über ihn zu sprechen. Sie scheinen ihn gut gekannt zu haben«, sagte Emily.
Libby war auf der Hut. »Ich habe gern mit ihm zusammengearbeitet.«
»Ich habe mich oft gefragt …« Emilys Stimme verklang. Die Stille zwischen ihnen dehnte sich aus. Libby konnte ihren eigenen Pulsschlag hören.
»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber Mark hat so liebevoll von Ihnen gesprochen. Wenn er Ihren Namen erwähnte, wurde seine Stimme immer ganz weich. Ich habe mich oft gefragt, ob Sie beide … zusammen waren.«
Das war ihre Chance. Sie konnte reinen Tisch machen. Alles gestehen. Gestern Abend war sie wütend gewesen, weil Tristan sie belogen hatte. Warum es nicht einfach aussprechen? Ja. Wir waren verliebt. Ich habe Mark geliebt. Ich habe Ihren Ehemann geliebt. Ihr Herz hämmerte. Der Gedanke, dass Marks Stimme weich geklungen hatte, wenn er ihren Namen ausgesprochen hatte. Es rührte Gefühle tief in ihrem Inneren auf. Sie war nicht über ihn hinweg. Vielleicht würde sie nie über ihn hinwegkommen. Aber er hatte ihr nie gehört.
Sie erinnerte sich an Damiens Rat. Vergiss, was du in der Vergangenheit getan hast. Denk lieber daran, was du jetzt, in der Gegenwart, tun kannst. Tristan hatte gelogen, um sich selbst zu schützen. Libby musste sich nicht mehr schützen. Sondern Emily.
»Ich habe Sie gekränkt, was?«, fragte sie schließlich.
»Nein, das haben Sie nicht. Ich habe nur überlegt, was ich Ihnen antworten soll. Mark und ich waren gute Freunde. Er hat mich oft in Paris besucht. Aber sein Herz gehörte nur Ihnen, Emily.« Und als sie es sagte, erkannte sie, dass es die Wahrheit war. Er war bei Emily geblieben. Er hatte sie beschützt. »Er hat Sie so sehr geliebt. Quälen Sie sich nicht mit der Angst, er hätte eine andere Frau geliebt. Er hätte Sie nie verlassen.« Niemals.
Sie konnte Emily leise weinen hören. Irgendwann beruhigte sie sich und putzte sich die Nase. »Sie sind so lieb. Und ich freue mich sehr, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Ich werde Ihnen auf jeden Fall weitere Aufträge geben. Vielen Dank, Libby, ich danke Ihnen so sehr.«
»Ich freue mich mehr, als ich sagen kann.«
Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück. Tristan war wieder eingeschlafen. Sie legte sich neben ihn und strich ihm sanft mit den Fingern über den Rücken. Er regte sich, wurde aber nicht wach. Sie würde es ihm sagen, wenn die Sonne aufging.
Sie hatte ihre Meinung geändert. Über alles.
Als Juliet aus der Dusche kam, hörte sie die Türklingel.
»Ich komme!«, rief sie, trocknete sich rasch ab und zog ein rotes Baumwollkleid über. Die Spätnachmittagssonne fiel schräg durch die Fenster auf der Westseite. Konnte das Damien sein? Er war seit einer Woche weg, und sie hoffte jeden Tag, von ihm zu hören. Gewiss konnte sie nach diesem Tag ein bisschen Aufmunterung gebrauchen. Sie hatte eine unerwartete Steuerforderung vom Finanzamt erhalten, und dann hatte Cheryl gekündigt, weil sie sich verliebt hatte und nach Neuseeland ziehen wollte.
Aber es war nicht Damien, wie sie gehofft hatte, nein, sie stand ihrer unwillkommenen Schwester gegenüber.
»Kann ich reinkommen?«
Juliet trat wortlos beiseite und schloss die Tür hinter Libby.
Libby hatte einen großen Umschlag unter dem Arm. Sie legte ihn behutsam auf den Couchtisch und setzte sich. »Wir müssen uns unterhalten.«
»Ach ja?«
Und dann lächelte sie auch noch, verflucht noch mal. Ein breites, wunderschönes, aufrichtiges Lächeln. Die Zeit wurde zu einem Teleskop, und sie erinnerte sich, wie Libby als Kind gelächelt hatte. Wenn sie im B & B Ritterburg gespielt oder Muscheln am Strand gesammelt oder einfach nur spätabends im Bett gelegen und über Jungs geredet hatten. Juliet spürte, wie sich die Zärtlichkeit in ihr Herz stahl.
Sie setzte sich. »Was ist los?«, fragte sie schon nachgiebiger.
Libby klopfte auf den Umschlag. »Sieh es dir an.«
Juliet nahm die Unterlagen heraus, las die Worte »Vertrag zwischen Ashley-Harris Holdings und Elizabeth Leigh Slater« und schob sie wieder hinein. »Ich will das gar nicht wissen.«
Libby nahm den Umschlag, zog die Papiere wieder heraus und suchte nach einer bestimmten Seite. »Keine Sorge, Juliet. Die Geschichte hat ein Happy End. Dafür werde ich sorgen. Schau mal.« Sie hielt ihrer Schwester die Dokumente unter die Nase und deutete mit ihrem leuchtend roten Fingernagel auf eine Zahl mit vielen Nullen.
Juliet wurde übel.
»Ich habe abgelehnt.«
Ihrer Schwester blieb die Luft weg. »Du hast …?«
»Ja, ich habe zweieinhalb Millionen Dollar abgelehnt. Sie sagten, sie wollen eine Öko-Ferienanlage bauen, aber … ich weiß nicht recht. Klingt ein bisschen verdächtig. Tristan Catherwood könnte nicht einmal dann die ganze Wahrheit sagen, wenn sein Leben davon abhinge. Also habe ich abgelehnt. Ich verkaufe nicht.«
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