»Lass uns hier warten. Der Dampfer fährt erst in zwei Stunden«, sagt er.
Sie sucht den Raum mit den Augen ab. Maschinen, verstaubt und für immer stehengeblieben. Räder mit Treibriemen, Pumpen, Seile und Ketten. Ihr Auge fällt auf eine hohe Plattform, und sie führt Matthew hin, damit er sich auf die unterste Treppenstufe setzen kann. Sie selbst steigt auf die Plattform, weil sie gesehen hat, dass ein Streifen Tageslicht durch einen Spalt zwischen den Brettern fällt.
Isabella kniet sich hin und drückt das linke Auge an den Spalt. So hat sie einen Blick auf die Anlegestelle. Sie hält die Luft an, als Percy vorbeigeht. Kurz darauf kommt er zurück und läuft auf und ab.
Sie setzt sich wieder zu Matthew. »Er wartet ganz sicher auf uns.«
»Lass mich überlegen.«
Sie kehrt wieder zu dem Spalt zurück. Da ist er, in seiner gelben Weste, geht langsam hin und her. Weitere Passagiere sammeln sich am Ufer. Sie weiß, dass Percy jedes einzelne Gesicht betrachten und nach ihr suchen wird. Und dann …
»Was kann er dir eigentlich tun?«, fragt Matthew, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
Isabella steht auf und setzt sich zu ihm. »Er würde mich der Polizei übergeben.«
»Warum hat er sie dann noch nicht gerufen? Warum hat er keine Polizisten bei sich?«
»Weil er mich zuerst für sich allein haben will.« Sie sieht die hilflose Verzweiflung in Matthews Gesicht und lässt den Kopf sinken. Ihre Wangen färben sich flammend rot, als sie sich erinnert, welche Freiheiten er sich sogar in ihrem eigenen Haus herausgenommen hat. »Werde ich gehängt, weil ich den Amtsstab gestohlen habe?« Zum ersten Mal gesteht sie, dass es sich um Diebstahl handelt. Bis jetzt, bis zu diesem Augenblick der Abrechnung, war er für sie nur ein Gegenstand, den jemand verloren und den sie behalten hat.
Er antwortet nicht, und sie fragt sich, ob er es nicht weiß oder es ihr nicht sagen will.
Dann hören sie in der Ferne das Signal des Dampfers.
»Er kommt«, haucht Isabella.
Matthew stützt die Ellbogen auf die Knie und lässt den Kopf in die Hände sinken. Sie warten in der stillen Mühle, während das Geräusch des Dampfers sich nähert. Isabella kehrt zu ihrem Ausguck zurück und sieht zu, wie das Schiff anlegt, die Passagiere aussteigen, Vorräte ein- und ausgeladen werden. Die Menge zerstreut sich ein wenig; viele haben auf Freunde gewartet. Das Löschen der Fracht dauert ewig, und Percy läuft umher, die Augen auf die Straße gerichtet, er wartet auf sie.
***
Als der Nachmittag kühler wird und die Schatten länger werden, beginnt er an sich zu zweifeln. Er hat Stunde um Stunde gewartet. Er könnte schon viel weiter sein, unterwegs nach Mooloolah. Sind sie vielleicht dort? Oder immer noch draußen im Busch? Vielleicht sind sie von der Hand Eingeborener oder an den Bissen wilder Hunde gestorben. Der Gedanke bereitet ihm keine Freude. Er will sie mit seinen eigenen Händen in Stücke reißen. Ein stiller Tod in der Wildnis ist keine Rache. Und er will den Amtsstab zurück. Wenn er irgendwo im Busch verlorengegangen ist, wird er ihn nie wiederfinden.
Ein Schmerz durchzuckt seinen Kopf. Noch nie war er so unsicher, und das macht ihn wütend. Warum musste Arthur auch sterben? Er läuft weiter auf und ab, ballt die Fäuste und löst sie wieder, hält Ausschau nach Isabellas blondem Haar.
Als es dämmert, gehen die Passagiere an Bord. Zuerst die mit Salonfahrkarten, vor allem Herren in gut geschnittenen Anzügen, aber auch die ein oder andere Ehefrau oder Tochter mit breitkrempigem Hut und maßgeschneidertem Mantel. Isabella läuft in der Sägemühle hin und her, während Matthew still und ruhig und sehr blass auf seiner Stufe sitzt.
»Uns rennt die Zeit davon«, sagt sie. »Wann geht der nächste Dampfer nach Brisbane?«
»In einer Woche.«
Matthew steht auf.
»Was machst du da?«
»Ich werde das jetzt beenden.«
Ihr Magen zieht sich zusammen. »Wie meinst du das?«
Das Signal ertönt. Ein Bootsmann läuft an der Anlegestelle auf und ab und läutet eine Glocke. »Alle an Bord, die an Bord wollen!«
Panik ergreift sie. »Das ist es. Der letzte Aufruf.«
Er hebt den Koffer auf. Sie eilt die Stufen hinunter. »Was hast du vor? Du gehst jetzt nicht da raus.«
Er reicht ihr den Koffer. »Nein. Aber du.«
»Was?«
»Geh an Bord. Ich werde versuchen, zu dir zu kommen, aber warte nicht auf mich. Geh in deine Koje, bleib für dich und pass auf unser Baby auf.« Er schluckt mühsam. »Ich werde Percy lange genug ablenken.«
Ihr Herz fühlt sich an, als müsse es bersten. »Nein, Matthew, bitte nicht. Bring dich nicht in Gefahr.«
»Ich habe immer noch die Hoffnung, zu dir zu kommen.«
»Aber wie?«
Er umfasst sanft ihr Kinn, seine Finger liegen fest und warm auf ihrem Gesicht. »Was du auch hörst, geh an Bord. Verstehst du mich? Egal, was du hörst.«
Sein Blick hält sie gefangen. Ihr Mund zittert. Sie schluchzt einmal auf.
»Verstehst du mich?«, fragt er noch einmal.
»Ja. Ja, Matthew.«
Er deutet zur Tür, bevor er kurz nickt. Dann begibt er sich zur Hintertür der Sägemühle. Sie ist abgeschlossen. Er nimmt ein Metallstück vom Boden und hebelt sie damit auf. Sie gibt nach.
Matthew dreht sich um und zeigt noch einmal auf die Tür. Sie prägt sich sein Gesicht ein und wendet sich ab.
Sie bleibt in dem dunklen Durchgang zwischen Sägemühle und Lagerhaus stehen und schaut um die Ecke. Die Gaslaternen an der Anlegestelle brennen inzwischen. Nur zwei Leute eilen zum Landungssteg. Percy in seiner gelben Weste steht genau davor, die Augen auf die Straße gerichtet.
Dann hört sie, wie jemand ihren Namen ruft.
»Isabella! Komm schon, Isabella! Der Dampfer legt gleich ab!«
Zuerst ist sie verwirrt, weil es Matthews Stimme ist. Er ruft sie von der Straße aus, hat ihr den Rücken zugewandt, als wäre sie irgendwo da draußen. Blitzartig kommt ihr der Gedanke, dass das Schlangengift seinen Verstand angegriffen hat, doch dann erwacht sie zum Leben und rennt in Richtung Straße. Sie weiß, was sie zu tun hat.
Sie berührt einmal ihren Bauch. »Komm, Kleines.« Sie eilt über den Laufsteg und hält ihre Fahrkarte hoch.
»Nach unten in den Salon, Ma‘am«, sagt der Bootsmann.
»Es kommt noch ein Herr. Ein großer Herr mit einem Bart. Hier ist seine Fahrkarte.« Sie zeigt sie vor. »Er wird kommen. Ich weiß …« Die Hoffnungslosigkeit schnürt ihr die Kehle zu.
»Ich halte Ausschau nach ihm, Ma‘am. Machen Sie es sich bequem.«
Sie kann nicht hier draußen auf ihn warten, Percy könnte sie entdecken. Sie geht mit ihrem Koffer die Treppe hinunter zu den Kojen. Dort verstaut sie ihn an einem Ende, setzt sich aufs Bett und wartet mit offenen Augen, hofft das Beste, fürchtet aber das Schlimmste.
***
Isabella kann ihr Herz klopfen hören. Poch, poch, poch. Es ist sehr still in der Koje. Die Geräusche des Dampfers, die Stimmen aus dem Salon, alles gedämpft durch Bettzeug und Vorhänge.
Poch, poch, poch.
Hat er es geschafft? Falls ja, müsste er doch schon hier sein.
Poch, poch, poch.
Tief in ihrem Inneren erklingt ein anderer Herzschlag. Matthews Kind. Wenn es aufwächst, wird es alles über seinen Vater erfahren, sie wird es die Werte lehren, die Matthew so wichtig sind: Treue, Geduld, Weisheit. Sie unterdrückt die Tränen. Sie hat immer gewusst, dass sie ihn verlieren wird.
Mit einem Ruck setzt sich der Dampfer in Bewegung. Sie keucht und schließt die Augen. Sie ist unterwegs. Nach Brisbane und von dort aus nach Sydney. Von Sydney nach New York. Die langen, offenen Meilen. Allein.
Dann hört sie Schritte. Sie spannt alle Muskeln an. Matthew? Percy? Sie drängt sich in die Ecke ihrer Koje.
Dann eine leise Stimme: »Isabella?«
Sie setzt sich auf und stößt sich den Kopf. »Matthew?« Sie schiebt den Vorhang beiseite, und da ist er, hinkend, aber greifbar und wirklich.
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