Sie steht auf und geht zu ihm, legt den Arm um seine Taille. »Siehst du? Jetzt bin ich bereit, weiterzugehen. In diese glückliche neue Welt.«
Er hebt den Koffer auf, und sie waten gemeinsam durch den Bach. Ihre Schuhe sind ohnehin durchweicht, also ist es egal, und dann wandern sie weiter nach Süden.
Die Mittagszeit naht, die Sonne wird warm. Wann immer sie kann, huscht Isabella in den Schatten, aber ihre Haut brennt dennoch. Sie trägt einen Hut, um ihr Gesicht zu schützen, hat aber die Ärmel aufgerollt, um den Wind zu spüren, und sieht, dass ihre Hände und Unterarme sich rosa färben. Ihr Magen knurrt, und sie sammelt Beeren und andere essbare Pflanzen. Sie knabbern etwas, während sie langsamer weitergehen, und sie erzählt Matthew von ihrer Wanderung über den Strand nach dem Untergang des Schiffs. Es scheint ein ganzes Leben her zu sein, ein Trauma, das jemand anderem zugestoßen ist. Aber das ist es nicht, es ist ihr zugestoßen. Und wenn sie das überlebt hat, wird sie auch diese kurze Wanderung überleben. Der Gedanke verleiht ihr neue Kraft und Zuversicht, und sie beschleunigt ihre Schritte. Sie kommen schnell voran in Richtung Noosa River.
***
Als sie das nächste Mal stehen bleiben, muss Matthew sich ausruhen, weil er einen Stein im Stiefel hat. Er setzt sich auf den Boden und zieht beide Schuhe aus, um sie auszuschütteln, dann lehnt er sich kurz zurück, um Atem zu schöpfen. Isabella bleibt stehen und fächelt sich mit den nutzlos gewordenen Fahrkarten von Mooloolah Heads nach Sydney Luft zu. Sie sind nicht mehr weit vom Ziel entfernt. Seit einer Stunde folgen sie dem Fluss ins Landesinnere. Die Vegetation verändert sich, wird dicht und dunkelgrün, sie müssen über Farnbüschel steigen, es riecht scharf nach Eukalyptus. Das andere Ufer, das für den Ackerbau gerodet wurde, backt in der heißen Sonne. Bald werden sie die Anlegestelle sehen. Sie fühlt sich plötzlich leicht und glücklich, als könne sie den Rest des Weges rennen.
Matthew steht auf und reckt sich, will sie umarmen, fährt dann aber mit einem Schmerzensschrei zusammen.
»Was ist los?« Die Angst schießt heiß unter ihre Rippen.
Er fällt auf den Boden und umklammert sein Bein. »Schlange«, stößt er keuchend hervor.
Sie kniet sich neben ihn und kann gerade noch sehen, wie ein dunkler Umriss ins Unterholz gleitet. »Was sollen wir machen? Ist sie giftig?«
»Keine Ahnung. Ich …« Sein Gesicht ist weiß vor Angst.
»Lass mal sehen.«
Er nimmt die Hände weg, und sie kann zwei deutliche Bissspuren am Knöchel sehen, knapp über dem Knochen. »Oh Gott, Matthew. Was sollen wir tun? Was sollen wir tun?«
»Such ein paar lange Ranken oder Grashalme. Wir müssen es abbinden.«
Sie springt auf und läuft mit unsicheren Schritten am Flussufer entlang. Sie reißt zwei grüne Ranken von einem Baum und kommt zurück. Er hat sein Federmesser aus der Tasche geholt und bringt zwei Schnitte oberhalb der Bissspuren an. Blut quillt hervor. Auf seine Anweisung hin bindet sie eine Ranke knapp unter sein Knie und eine knapp darüber.
»Fester«, sagt er mit zusammengebissenen Zähnen.
Sie zieht fester. Sein Knie färbt sich dunkelrot.
»Isabella«, er legt ihr sanft, aber entschlossen die Hand auf den Hinterkopf, »du musst das Gift heraussaugen.«
»Das Gift …? Wie?«
»Mit dem Mund. Ich komme nicht an den Knöchel. Du musst es tun. Und zwar schnell.«
Ihr Herz hämmert. Sie ist sicher, dass sie etwas falsch machen wird und ihn nicht retten kann. Sie kauert sich neben ihn und legt ihren Mund über die Bissstelle. Seine Haut schmeckt nach Salz und Erde, aber der metallische Geschmack von Blut überlagert alles andere. Sie drückt die Lippen darauf und saugt, so fest sie kann. Ihr Mund füllt sich mit Blut, ihr Magen dreht sich um.
»Spuck es aus«, drängt er. »Nicht schlucken.«
Sie spuckt aus, legt den Mund wieder darüber und saugt weiter, spuckt erneut. Da sie nicht weiß, was sie als Nächstes machen soll, fährt sie damit fort, bis er ihr leicht auf den Kopf klopft. »Hör jetzt auf.«
»Kannst du laufen?«
»Es ist ja nicht weit. Verdammt. Im Leuchtturm habe ich eine Notfallausrüstung für Schlangenbisse. Warum habe ich die nicht mitgenommen?«
»Weil du nicht erwartet hast, dass wir in den Wald gehen.« Sie lässt den Kopf hängen und wird rot. »Es ist meine Schuld.«
Er greift mit kalten Fingern nach ihrem Handgelenk. »Nichts davon ist deine Schuld.«
»Musst du sterben?« Ihre Augen füllen sich mit Tränen.
Er schüttelt den Kopf. »Ich weigere mich zu sterben.« Er lächelt, aber sein Gesicht ist angespannt. »Doch ich werde vermutlich krank.«
»Kannst du noch gehen?«
Sein Blick wandert zur Seite. »Nein. Ich habe nicht gesehen, was für eine Schlange es war. Es gibt verschiedene hier in der Gegend. Manche sind giftiger als andere, ich muss mich jetzt ruhig verhalten. Du musst alleine nach Tewantin gehen und Hilfe holen. Karbolsäure. Ich muss sie in die Wunde gießen.«
Die Vorstellung, ihn allein und verletzt zurückzulassen, ist unerträglich. Der nächste Gedanke, nämlich den Dampfer zu verpassen oder ohne Matthew an Bord zu gehen, ist noch schlimmer.
»Ich gehe. Karbolsäure.«
»Frag im Royal Mail Hotel nach. Frag irgendjemanden. Es muss kein Arzt sein. In dieser Gegend dürften die meisten Leute für Schlangenbisse gerüstet sein.«
Sie steht auf. »Ich bin bald zurück, mein Liebster.« Dann läuft sie los.
Zum Glück ist es am Fluss schattiger. Sie läuft und geht im Wechsel. Ihr Herz ist im Bachbett bei Matthew, doch ihr Verstand bleibt klar und konzentriert. Hinter der nächsten Biegung kann sie Stimmen hören. Zwei Männer in Hemdsärmeln sitzen in einem flachen Fischerboot.
»Sie da! Sie da!« Sie winkt ihnen zu. Dann legt sie einen letzten verzweifelten Sprint hin und rennt zum Rand des Wassers hinunter. »Sie da!« Diesmal drehen sie sich um. »Ich brauche Hilfe. Mein Freund wurde von einer Schlange gebissen!«
Der Mann an den Rudern zögert nicht lange, wendet das Boot und steuert auf sie zu.
»Vielen Dank«, sagt Isabella, als sie näher kommen. Sie bemerkt, dass die beiden Männer Chinesen sind, vermutlich von den Goldfeldern. »Können Sie mich in die Stadt bringen? Ich brauche eine Ausrüstung, um einen Schlangenbiss zu behandeln. Bitte!«
»Nicht nötig«, sagt der erste Mann und packt seine Angelrute weg. »Wir helfen. Sie zeigen uns den Weg zu Ihrem Freund.« Er streckt die Hand aus, und sie greift danach und steigt ins Boot.
»Dort entlang«, sagt sie und deutet den Fluss hinunter. »Es ist nicht weit.«
Sie sprechen in ihrem fremdländischen, näselnden Singsang miteinander, und Isabella hält stetig Ausschau nach dem Baum, von dem sie die Ranken gerissen hat. Einige Minuten später entdeckt sie ihn. »Da drüben!« Die Männer rudern ans Ufer.
Während sie das Boot an Land ziehen, läuft Isabella so schnell wie möglich zu Matthew. Er hat die Augen geschlossen, öffnet sie aber, als er sie hört.
»Isabella? So schnell?«
»Ich habe Hilfe gefunden«, keucht sie. Die Chinesen nähern sich. Einer trägt einen kleinen Stoffbeutel über der Schulter, der andere einen Suppentopf.
»Karbolsäure?«, fragt Matthew mit flehendem Blick.
Der größere Mann schüttelt den Kopf und klopft auf seine Tasche, bevor er ein Wort auf Chinesisch sagt.
Matthew setzt sich mühsam auf. »Nein, nein. Ich brauche Karbolsäure. Ich brauche …«
Der andere Mann legt ihm die Hand auf die Schulter. »Das ist altes chinesisches Heilmittel. Wir haben es mit nach Australien gebracht. Sie vertrauen uns.«
Isabella schaut von Matthew zu den Männern, Zweifel stehlen sich in ihr Herz. Hat sie es falsch gemacht? Jetzt ist es zu spät. Sie sind hier. Sie machen Feuer und hängen den Suppentopf darüber, kochen Wasser und geben getrocknete Kräuter dazu, während Matthew mit geschlossenen Augen auf ihren Schoß gebettet daliegt.
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