Er erwidert das Lächeln nicht. »Sagen Sie mir, was Sie über Mary Harrow und Matthew Seaward wissen.«
Die Frau stottert, ist eingeschüchtert von seinem Auftreten. »Mary Harrow? Sie war eine Zeitlang Kindermädchen bei den Fullbrights, aber sie ist schon lange weg.«
»Nun, ich habe sie heute Morgen noch gesehen. Lügen hier eigentlich alle Leute?«
Ein gutgekleideter Mann, der rauchend neben dem Postkartenständer steht, meldet sich zu Wort: »Die Frau hier lügt nicht. Ich kenne Mary Harrow. Sie hat für die Fullbrights gearbeitet, ist aber vor vielen Monaten weggezogen. Ich habe sie allerdings im Winter gesehen.«
»Ihr Name?«
»Abel Barrett.«
Percy mustert ihn. Er sieht aus wie ein Gentleman und möchte offenbar nur allzu gern erzählen, was er über Mary Harrow weiß. »Sie hat Sie alle getäuscht«, sagt Percy. »Ihr Name ist nicht Mary Harrow, sondern Isabella Winterbourne. Sie ist eine Diebin. Möglicherweise eine Mörderin.«
»Sie hat Katherine Fullbright bestohlen«, sagt die Frau hinter der Theke.
Barrett hebt die Hand, um die Frau zum Schweigen zu bringen. »Wer sind Sie?«
»Ich bin Percy Winterbourne aus der Juweliersfamilie.«
Barrett runzelt die Stirn. »Sie hatte Schmuck. Sie hat ihn in Brisbane verkauft.«
Percy zuckt zusammen und denkt daran, wie viel von ihrem eigenen Schmuck, den seine Familie bezahlt hat, sie wohl verkauft haben mag. Und sie hat noch immer den Amtsstab. Warum sonst sollten sie und der Leuchtturmwärter weggelaufen sein? »Es war alles gestohlen«, verkündet Percy mit drohender Stimme. »Von meiner Familie gestohlen. Von meinem toten Bruder gestohlen. Ihrem verstorbenen Ehemann.«
Die Frau keucht auf. Abel Barrett kaut nachdenklich auf seiner Zigarre. »Was hat das mit Matthew Seaward zu tun?«
»Sie stecken unter einer Decke. Er hat sie bei sich wohnen lassen.«
Barrett schüttelt den Kopf. »Nein, das ist unmöglich. Matthew Seaward ist schüchtern wie ein Mäuschen. Hat noch nie etwas Schlechtes in seinem Leben getan.«
»Mein Mann verleiht auch Wagen, hinten im Laden«, sagt die Frau in dramatischem Ton. »Seaward hat einen bis morgen gemietet. Sagte, er wolle zur Anlegestelle von Mooloolah und zurück. Er will ihn um zehn Uhr abholen. Falls Sie also warten möchten.«
Percy erstarrt. »Zur Anlegestelle von Mooloolah?«
»Von dort aus fahren Schiffe nach Sydney.« Sie genießt offenkundig ihre Rolle in dem Drama.
Und von Sydney aus … in alle Welt. »Ja, ich werde warten.« Sie müssen kommen. Sie müssen von hier weg und brauchen dafür einen Wagen – und dann wird er zuschlagen.
***
Isabella rollt sich im Bachbett auf den Rücken und schließt die Augen. Ihr Gesicht ist blass und müde, und Matthew spürt einen Stich im Herzen. Während sie gerannt sind, hat er völlig vergessen, dass sie ein Kind erwartet. Sein Kind. Ihre Gliedmaßen scheinen bleischwer. Er kann die Distanz nicht mehr ertragen. Es ist ihm egal, wie schwer es den Abschied macht; er nimmt sie in die Arme und küsst ihr Gesicht, ihre Ohren, ihr Haar.
»Ich liebe dich, ich liebe dich. Du bist in Sicherheit«, sagt er wieder und wieder.
Sie klammert sich weinend an ihn.
»Sch, alles wird gut.«
»Aber wie? Wir können nicht zurück ins Dorf; er könnte noch dort sein. Wir können auch den Wagen nicht abholen, und zu Fuß kommen wir nicht nach Mooloolah, es sind vierzig Meilen.«
»Aber wir können bis Tewantin gehen. Die Plover fährt heute Abend nach Brisbane. Von dort aus kannst du eine andere Überfahrt nach Sydney oder Melbourne buchen und weiter nach New York reisen, wo Victoria dich erwartet. Ich weiß, dass du Angst hast, aber wenn du es erst aus Queensland hinausgeschafft hast, bist du sicher. Und eines Tages, es wird nicht mehr lange dauern, wirst du glücklich sein. Das verspreche ich dir.«
Sie schaut ihn aus großen Augen an, ohne zu blinzeln. Der Instinkt, sie zu beschützen, ist wie ein Muskel, der sich in seinen Eingeweiden zusammenzieht.
»Komm mit«, schluchzt sie. »Du musst mit mir nach New York kommen. Wir sind jetzt eine Familie. Lass mich das nicht allein durchstehen.«
Wir sind jetzt eine Familie. Es ist, als hätte man in seinem Inneren ein Licht entzündet. Warum wird ihm das erst jetzt klar? Eine Familie. Seine Ohren klingeln leise, als er den Gedanken dreht und wendet. Sie und sein Kind alleine übers Meer reisen zu lassen, würde ihn in der Tat zu einem schlechten Menschen machen. Auch er muss aufbrechen. Er muss sie beschützen. Seine Verantwortung gegenüber dem Signalfeuer, dem Telegrafen, der Regierung, die seit zwanzig Jahren sein Gehalt bezahlt, ist nichts im Vergleich zu der Verantwortung, die er für Isabella und ihr Kind empfindet. Sein Kind. Etwas regt sich in ihm. Angst, vermischt mit Staunen. Ehrfurcht. Seine ganzen Zweifel über das, was gesellschaftlich korrekt ist, kommen ihm plötzlich klein und unwichtig vor, werden davongespült vom breiten Strom der Moral eines Mannes, der bald Vater werden wird.
»Ja, mein hübsches Vögelchen«, sagt er und streicht ihr übers Haar. »Ich komme mit.«
Isabella stolpert hinter Matthew durch den Busch. Sie erinnert sich voller Entsetzen an ihre letzte Wanderung durch die feindselige australische Landschaft. Seither hat sich vieles verändert, aber sie hat immer noch Angst. Sie folgen dem Meer zu ihrer Linken und lassen sich vom Geräusch des Ozeans nach Süden führen. In wenigen Stunden werden sie zum Fluss gelangen, dem sie ins Landesinnere bis zur Anlegestelle folgen können. Sie ist schon müde, kämpft sich aber weiter. Wenn sie das nächste Mal an einen Bach kommen, wird sie darauf bestehen, etwas zu trinken. Die Schwüle erschöpft sie. Der ohrenbetäubende Lärm der Zikaden hämmert in ihrem Kopf. Schweiß sammelt sich auf ihrer Stirn und unter den Brüsten.
»Geht es dir gut?«, ruft Matthew über die Schulter. Er bricht Zweige ab und schiebt Äste beiseite, um ihr den Weg zu bahnen.
»Ich bin müde.«
»Nur noch ein paar Stunden.«
»Es ist so heiß.«
»Komm, wir gehen ein bisschen näher ans Wasser.« Er ändert leicht die Richtung, und sie folgt ihm, bleibt aber im Schutz der Büsche. Das Geräusch des Meeres wird lauter, und der Wind trocknet den Schweiß auf ihrer Haut.
»Da vorn ist ein Bach«, ruft er. »Dort werden wir eine Pause machen.«
Dankbar lässt sie sich am Rand des Wassers zu Boden sinken und schöpft die kühle Flüssigkeit in ihren Mund. Sie schmeckt nach Erde und Gras, Isabella trinkt sie dennoch.
Matthew setzt sich neben sie und trinkt ebenfalls. Dann schaut er sie an. »Kannst du weitergehen?«
»Noch nicht.«
»Wenn wir erst in Tewantin sind, werde ich mich sicherer fühlen. Der Schaufelraddampfer könnte sogar schon vor Anker liegen. Wir können sofort in unsere Kojen gehen und uns dort ausruhen und verstecken.«
»Lass mich bitte noch ein bisschen rasten. Das Baby macht mich müde.«
Er nickt zustimmend, und sie sitzt zwischen den Büschen und holt tief Luft. Er geht um sie herum, ist unruhig, will wieder aufbrechen. Sie schließt die Augen und versucht, es zu verdrängen.
»Wirst du das Meer vermissen?«, fragt sie.
Er schweigt einen Moment und sagt dann: »Vermutlich schon. Daran habe ich noch gar nicht gedacht.« Sie hört, dass er endlich stehen geblieben ist. »Ich bin seit zwanzig Jahren mit dem Geräusch des Meeres in den Ohren eingeschlafen. Als wir in Brisbane waren, kam mir die Welt unnatürlich still vor. Ich nehme an, daran muss ich mich gewöhnen.«
Sie öffnet die Augen. Er steht da, seine Umrisse zeichnen sich vor der Sonne ab. Er hat sich von ihr abgewandt und schaut über den Bach zum Ozean.
»Tut mir leid, dass ich dich von hier weghole.«
Er dreht sich um und lächelt. »Du bringst mich an einen Ort, von dem ich nie geträumt habe. In ein Leben mit einer liebenden Frau und Kindern. Eine neue Stadt. Eine neue Welt …« Die Gefühle überwältigen ihn, er kann nicht weitersprechen.
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