»Kennen Sie diese Frau?« Er deutet auf Isabella.
»Ja, das ist Mary Harrow.«
»Nein, es ist Isabella Winterbourne. Die Frau meines verstorbenen Bruders.«
Kurze Stille. Dann kommt ein Hausmädchen mit einem Teetablett herein, und sie betrachten einander, während sie es serviert.
»Es reicht«, sagt Lady McAuliffe schließlich. »Ich gieße ein. Und du sorgst dafür, dass die Tür fest geschlossen ist.«
Als das Mädchen gegangen ist, sagt Lady McAuliffe: »Was sagen Sie da? Wie meinen Sie das?«
»Sie hat sich nur als Mary Harrow ausgegeben. Sie ist eine Diebin. Sie hat meiner Familie etwas sehr Wertvolles gestohlen und ist damit entkommen. Verraten Sie mir bitte, wie eine so junge Frau als Einzige einen Schiffbruch überleben kann? Ich weiß, dass sie eine Diebin ist, vermute aber, dass sie auch eine Mörderin sein könnte.«
Lady McAuliffe gießt den Tee ein, lehnt sich zurück und trinkt einen Schluck. »Ich bin schockiert.«
»Ich muss sie finden.«
»Werden Sie die Polizei einschalten?«
»Nein. Ich möchte sie selbst finden.« Als ihm klarwird, dass es zu harsch klingt, fügt er hinzu: »Sie gehört immer noch zur Familie. Wir hoffen, sie zu … rehabilitieren. Es wird auf uns zurückfallen, wenn sie ins Gefängnis muss.« Er hofft, dass es überzeugend klingt. In Wahrheit hat er Mutter noch gar nicht geschrieben, dass er Isabella aufgespürt hat. Er will sie stellen und dann selbst über ihre Strafe entscheiden. Schweiß sammelt sich auf seiner Oberlippe.
Doch Lady McAuliffe schüttelt den Kopf. »Tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Ich habe keine Ahnung, wo sie sich befindet. Wir kennen uns nur sehr flüchtig. Sie war die Freundin einer Freundin und ist erst im letzten Augenblick auf dem Ball erschienen. Warum lassen Sie mir nicht Ihre Karte hier, dann höre ich mich um.«
Druck baut sich in Percys Kopf auf. Er hat den weiten Weg gemacht, und jetzt kennt sie Isabella angeblich kaum? Er muss sich sehr bemühen, in gemessenem Ton zu sprechen. »Ja, ich wäre Ihnen sehr dankbar für jegliche Hilfe.«
Sie deutet auf die Kanne. »Möchten Sie Tee?«
Er schüttelt den Kopf. »Nein, mir ist nicht danach.« Ihm ist eigentlich nur nach Rache. Und je länger er darauf warten muss, desto heftiger wird sie ausfallen.
Nur zufällig geht er bei Hardwick hinein. Er hat die Anzeige in der letzten Ausgabe des Brisbane Courier gesehen und bemerkt, dass sie eine große Kollektion an Winterbourne-Schmuck anbieten. Als er am Schaufenster vorbeikommt, erscheint es ihm angemessen, sich den Laden einmal anzusehen.
Von da an passiert nur noch Gutes. Ein schwer beeindruckter Max Hardwick zeigt ihm das Verkaufsregister, um zu beweisen, wie wichtig der Winterbourne-Schmuck für sein Geschäft ist. Dabei fällt Percys Blick auf den Namen »Mary Harrow«.
Er deutet auf die Seite. »Mary Harrow. Wer ist das?«
»Ach, eine junge Frau, die selbst Schmuck herstellt. Sehr hübsch. Wir hatten drei oder vier Stücke, die sich rasch verkauft haben, aber sie hat mir danach nichts mehr angeboten.«
In Percys Ohren dröhnt es so laut, dass er fast nichts mehr hören kann. »Verstehe. Wo kann ich sie erreichen?«
Und dann hat er die Antwort. Lighthouse Bay. Zu Händen des Telegrafenamtes, das sich Max Hardwick zufolge im Leuchtturm befindet.
Percy marschiert zur Tür hinaus.
Am Abend vor ihrer Abreise liegt Isabella in der warmen Badewanne. Das Wasser lindert die Schmerzen in Knochen und Rücken, und sie schließt die Augen und lässt sich einige Minuten lang einfach treiben. Sie und Matthew begegnen einander seit Tagen distanziert, teilen nicht mehr das Bett, schlafen nicht miteinander, vermeiden sogar, einander in der Küche zu berühren. Wann immer sie den schmerzlichen Drang spürt, sich an ihn zu schmiegen, unterdrückt sie ihn mit ihrer Vernunft. Sie können nicht zusammen sein, also hat es auch keinen Sinn, den Schmerz mit langen, traurigen Umarmungen zu vergrößern. Morgen um diese Zeit wird sie an der Anlegestelle auf die Überfahrt nach Sydney warten, und er wird unterwegs in sein billiges Zimmer über der Kneipe des örtlichen Hotels sein.
Dann ist es vorbei.
Isabella öffnet die Augen. Ihr Handtuch hängt neben der Wanne, und sie steht auf, wobei sie wieder das Gewicht ihres Körpers spürt.
Dann plötzlich, im Lampenlicht und aus diesem Blickwinkel, kann sie sie sehen: schwache blaue Linien auf ihren Brüsten. Rasch greift sie nach der Lampe statt nach dem Handtuch und hält sie so nahe an die nackte Haut, wie sie es wagt.
Blaue Linien auf den Brüsten, den Brüsten, die sich seit zwei Tagen so empfindlich anfühlen.
Isabella kennt diese Linien. Sie kennt auch die Empfindlichkeit. Sie hängt die Lampe wieder an den Haken, greift nach dem Handtuch und wickelt es um sich, bevor sie nach unten läuft. Sie öffnet die Tür zur Plattform, von der Matthew auf den Ozean blickt.
Er dreht sich zu ihr um, einen verwirrten Ausdruck im Gesicht. Immerhin trägt sie nur ein Handtuch.
»Isabella?«
Eine schwindelerregende Hoffnung hat sie erfasst. Die Sterne scheinen sehr nah. Sie lässt das Handtuch hinabgleiten, so dass die Abendluft über ihre nackten Brüste streicht, und sagt: »Matthew, ich bin schwanger.«
Isabella erwacht aus einem unruhigen Halbschlaf, das Bett ist zerwühlt. Heute ist der Tag. Sie und ihr Baby – ihr Baby – werden noch vor Jahresende in New York sein. Sie wird das alles hinter sich lassen. Doch am Horizont ziehen dunkle Wolken auf.
Sie hört Matthew im Nebenzimmer. Bei dem Gedanken, ihn zurückzulassen, verspürt sie einen bitteren Geschmack im Mund. Doch selbst die Aussicht, Vater zu werden, kann ihn nicht dazu bewegen, mit ihr zu fahren. Als sie ihn danach gefragt hat, als die Realität mit ihren Forderungen unerbittlich auf ihn eingedrungen ist, hat er ausgesehen, als würde ihm übel, als stünde er unter Schock.
»Bau dir ein Leben ohne mich auf«, hatte er gesagt. Die Distanz der letzten Zeit scheint tief in ihre Seelen gedrungen zu sein.
Isabella setzt sich auf. Schaut auf ihre nackten Brüste. Sie sind auch heute Morgen noch schwer und empfindlich, die Brustwarzen dunkler als sonst. Letzte Nacht hat die Reue sie überkommen, weil sie Daniels Armband begraben hat.
Zuerst war es nur ein Kribbeln, doch jetzt ist das Gefühl stärker geworden. Sie versucht, es im Kopf zu verarbeiten, kann ihre Gedanken aber nicht ordnen und fühlt sich von Uhrzeiten und Fahrplänen unter Druck gesetzt. Vielleicht wird ihr die Antwort klar, wenn sie in den Wald geht, wo das Armband begraben liegt. Sie steht auf, zieht Strümpfe und Unterkleid an. Da sie keinen richtigen Kleiderschrank hat, hängen ihre Kleider über einem Stuhl. Sie wählt eins für die Reise aus und faltet die übrigen zusammen, um sie in den Koffer zu legen. Sie klappt den Deckel auf und keucht.
Der Boden des Koffers ist voller Goldklumpen.
»Matthew?«, ruft sie.
Schon steht er mit finsterer Miene in der Tür, ein Telegramm in der Hand.
»Woher hast du das?«
»Das ist der Amtsstab«, erwidert er, als verstünde sich das von selbst. Sie hat keine Zeit zu antworten, da er das Telegramm schwenkt. »Für dich.«
Sie nimmt es mit gerunzelter Stirn entgegen.
Mary, Percy Winterbourne sucht nach Ihnen. Habe ihm nichts gesagt, aber passen Sie auf. Berenice.
Isabellas Kopf schießt in die Höhe. Ihr Herz ist kalt. »Wann hat sie das geschickt?«
»Gestern Morgen. Weiß sonst noch jemand, dass du hier bist?«
»Nein«, lügt sie. Der Juwelier weiß, wo sie zu finden ist, vielleicht auch ein oder zwei Freundinnen von Berenice. »Wann holst du den Wagen?«
»In etwa einer Stunde. Beeil dich. Pack den Koffer und halte dich bereit. Sobald du an der Anlegestelle bist, hast du nichts mehr zu befürchten.« Er sieht aus, als wolle er sie am liebsten erdrücken, um sie zu beschützen, doch er bleibt auf Distanz, wie sie es stillschweigend vereinbart haben.
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