»Sicher, nur zu.«
»Falls du dich ernsthaft für meine Schwester interessierst, solltest du dafür sorgen, dass du unter deine andere Beziehung einen Schlussstrich ziehst. Ich habe keine Ahnung, ob sie euren Altersunterschied problematisch findet, aber sie würde sich bestimmt nicht mit jemandem einlassen, der so viele alte Beziehungsprobleme mit sich herumschleppt. Du musst es jetzt regeln, nicht irgendwann.«
Er nickte. »Ein guter Rat. Ich lasse ihn mir durch den Kopf gehen. Und weißt du, was ich dir rate?«
Er merkte, wie sie sich innerlich sträubte, und lächelte. »Na los, du musst ihn dir anhören.«
»Schön, wie lautet er denn?«
»Vergiss, was du in der Vergangenheit getan hast. Denk lieber daran, was du jetzt, in der Gegenwart, tun kannst.«
»Danke«, sagte sie mit einem leichten Nicken. »Ich denke darüber nach.«
Am Montagmorgen kam Juliet nach unten und entdeckte Melody, die sich lachend und flirtend an Damiens Tisch herumdrückte.
Ihr Magen zog sich zusammen. Melody war gerade erst zwanzig geworden und ihm somit vom Alter her näher als Juliet. Außerdem hatte sie makellose Haut und lange, schlaksige Fohlenbeine. Sie spielte mit dem Gedanken, Melody in die Küche zu schicken, um die Lieferung der Bäckerei entgegenzunehmen – immerhin war das ihre Aufgabe –, ließ es aber sein. Cheryl hatte sie gewarnt. Datemate hatte es bestätigt. Sie würde Damien nicht daran hindern, woanders sein Glück zu finden.
»Guten Morgen«, sagte sie leise und ging in die Küche.
Kurz darauf traf die Lieferung von der Bäckerei ein, und Juliet lenkte sich damit ab, Waren und Rechnung zu prüfen. Der einzige Gast kam nicht zum Frühstück herunter, es wurde ein ruhiger Morgen. Sie bereitete den Teig für die Scones vor und schnitt sie gerade auf der bemehlten Arbeitsplatte, als Damien hinter sie trat.
»Juliet?«
Sie zuckte zusammen und legte die Hand aufs Herz.
»Entschuldigung.«
»Ich war im Geist kilometerweit entfernt. Wie war das Frühstück?«
»Super, wie immer.«
Sie schluckte schwer. »Melody macht das in der Woche wirklich wunderbar. Ohne sie wäre ich verloren.« Sie lächelte aufmunternd. »Ein tolles Mädchen.«
»Hm … ja.«
»Ihr beide scheint euch gut zu verstehen. Ihr solltet euch mal verabreden. Ich wette, sie weiß, wo man hier abends hingehen kann.« Abends hingehen? Wirklich? Was wusste sie denn schon darüber, wie junge Leute ihren Abend verbrachten?
Zwischen ihnen entstand ein verlegenes Schweigen. Dann sagte Damien: »Ich muss weg. Höchstens eine Woche. Vielleicht auch weniger. Ich … ich muss ein paar Sachen mit Rachel regeln. So kann es nicht weitergehen.«
Sie nickte vorsichtig.
»Ich verspreche, ich komme zurück und mache deine Küche fertig.«
»Keine Sorge, du hast schon so viel getan.«
»Nein, nein. Ich komme zurück. Versprochen.«
Doch sie spürte es. Er entfernte sich von ihr, zog sich aus ihrem Leben zurück. Es war vermutlich besser so. Ihre Schwärmerei war ohnehin albern. Verrückt. Sie schämte sich für sich selbst. »Viel Glück.«
Dann trat er näher und umarmte sie. Sie war so berauscht, dass die Umarmung vorbei war, bevor sie sie begreifen und richtig genießen konnte. Ein flüchtiger Eindruck von seiner Wärme, wie er sich anfühlte, wie sein Herz schlug, vor allem aber von seinem Geruch: würzig, frisch, wie das Meer. Er trat zurück und sagte leise etwas.
»Wie bitte?«
»Egal. Wir sehen uns, wenn ich zurück bin.«
»Ich halte dein Zimmer frei.«
Er lächelte und ging zur Tür hinaus.
Alle kannten Juliet. Das war der Vorteil, wenn man sein ganzes Leben in einer Kleinstadt verbracht hatte. Alle kannten sie, und die meisten meinten es gut mit ihr. Manche erzählten ihr gerne Klatsch, obwohl sie selbst wenig Spaß daran hatte. Und niemand klatschte lieber als Shelley Faber, die Sekretärin von Anderson und Wright, der Anwaltskanzlei in der Puffin Street.
Sie war in der kurzen Ruhepause zwischen Morgentee und Mittagessen zur Bank gegangen, um rasch etwas zu erledigen. Doch Shelley, mit der sie in der elften Klasse zusammen Englisch gehabt hatte, stand vor ihrem Büro und rauchte eine Zigarette.
»Juliet! Auf dich habe ich gewartet.«
»Auf mich? Wieso?«
Shelley blies einen dünnen Rauchstrahl aus und trat die Zigarette auf dem Gehweg aus. »Deine Schwester. Was hat sie zu verkaufen?«
Juliet stöhnte innerlich. Warum gingen nur alle davon aus, dass sie wusste, was ihre Schwester trieb? »Keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»Bronwyn drüben bei Pariot‘s hat erzählt, Elizabeth Slater habe für diese Woche einen Termin mit einem Anwalt vereinbart. Wegen eines Immobilienverkaufs.«
Das brennende Gefühl begann tief in ihrem Bauch. »Ich weiß von gar nichts. Libby und ich stehen einander nicht sehr nahe.«
»Meinst du …?«
»Ich sagte doch, ich weiß von nichts«, fauchte Juliet. »Tut mir leid, ich muss los.«
Die Sache mit der Bank war vergessen. Juliet marschierte zum Strand hinunter, zog die Schuhe aus und watete ins Wasser. Einatmen. Ausatmen.
Libby. Tristan Catherwood. Immobilie. Alles passte zusammen. Seit Jahren kämpfte die Gemeinde gegen Ashley-Harris Holdings. Und am härtesten hatte Juliet gekämpft – nicht nur um die Zukunft ihrer Firma, sondern auch zum Wohl der Stadt, ihrer Bewohner und der Natur. Was wussten Libby und Tristan denn schon von Lighthouse Bay? Gar nichts. Was stand auf dem Spiel? Alles.
So trostlos hatte sich Juliet schon lange nicht mehr gefühlt. Der jahrelange Kampf hatte sie erschöpft. Sie hatte sich so sehr bemüht, ihre eigene Zukunft zu sichern, und musste nun feststellen, dass diese Zukunft leer war: keine Liebe, keine Familie und nun auch noch eine zum Tode verurteilte Existenz in einer Stadt, die sich unwiderruflich verändern würde. Und sie war nicht mehr jung; das hatte die Geschichte mit Damien ihr nur zu deutlich vor Augen geführt. Ganz plötzlich kam ihr das Leben kurz und vergänglich vor. Sie bohrte die Zehen in den Sand, doch die zurückweichenden Wellen zogen ihr den Boden unter den Füßen weg. Sie schloss die Augen, ihr war einen Moment lang schwindlig.
Aber es war halb zwölf. Sie konnte nicht ewig hier stehen bleiben und sich bemitleiden. Melody und Cheryl warteten auf sie: auf ihre allzu ernste, verbrauchte Chefin. Heute würden sie jedenfalls noch Gäste haben. Was morgen oder übermorgen oder nächstes Jahr geschah, konnte niemand wissen. Schon gar nicht Juliet.
***
Libby wachte mitten in der Nacht auf. Sie hatte die Decke weggestrampelt, und ihre Haut kribbelte vor Kälte. Im Halbschlaf griff sie nach der Decke.
Dann hörte sie ihn. Den Wagen. Der Motor wurde abgestellt.
Sie setzte sich auf, schob den Vorhang beiseite und schaute hinaus. Die Scheinwerfer brannten noch. Das Nummernschild konnte sie nicht erkennen.
Sie hatte ihr Handy neben dem Bett liegen, wie Damien ihr geraten hatte, und wählte rasch die Nummer der Polizei. Ein junger Beamter meldete sich. Sie erzählte, was passiert war, und hängte ein.
Die Polizei würde ein paar Minuten brauchen. Sie schaute aus dem Fenster. Eine dunkle Gestalt – unverkennbar der Sohn von Graeme Beers – stieg aus dem Wagen und kam von Norden her auf das Haus zu.
Libby saß wie erstarrt da, unentschlossen. Sie konnte ihn zur Rede stellen. Sie konnte ihn fragen, was zum Teufel er hier trieb.
Er könnte gefährlich sein. Das kann man nie wissen. Gut, sie würde sich von ihm fernhalten. Aber sie konnte von der anderen Seite ums Haus schleichen und einen Blick auf das Nummernschild riskieren. Dann müsste selbst Scott Lacey ihr glauben.
Sie stand auf und ging in ihrem kurzen Baumwollpyjama durchs Atelier, um die Taschenlampe zu holen. Durch die Haustür konnte sie nicht gehen; falls Graeme im Wagen saß, würde er sie entdecken. Also entfernte sie leise das Fliegengitter vom Fenster des Ateliers, stellte einen Stuhl davor und kletterte vorsichtig hinaus, um mit einem sanften Aufprall in dem zugewucherten Beet darunter zu landen. Sie blieb stehen und horchte. Ihr Herz hämmerte so laut, dass sie kaum die Meeresbrandung und das Zirpen der Grillen hören konnte. Keine Schritte. Nichts. Sie schlich um die Ecke des Hauses und wartete ab.
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