Sie streckt die Arme aus und zieht ihn fest an sich.
»Ich muss mich hinlegen«, keucht er.
»Natürlich, natürlich. Hier ist deine Koje.«
Er legt sich hin, während sie sich um ihn herum zu schaffen macht. Vor Erleichterung hat sie weiche Knie. Er schließt die Augen.
»Was ist passiert?«
»Ich habe einen Baumstamm nach ihm geworfen. Als ich an Bord rannte, lag Percy noch hinter einem der Lagerhäuser auf dem Boden.« Er stöhnt leise. »Ich muss mich ausruhen. Die Wunde tut weh.«
»Ich hole den Schiffsarzt.«
Doch er ergreift sanft ihr Handgelenk und zieht sie zu sich. »Nicht jetzt. Bald. Halte mich noch einen Augenblick fest.«
Also beugt sie sich über ihn, versinkt in ihm, drückt ihr Gesicht an seinen Hals. Sie kann seinen Herzschlag hören.
Seinen und ihren Herzschlag und den winzigen, unhörbaren, der sie bis zu ihrem Tod verbinden wird.
Der Fluss gleitet unter ihnen dahin und trägt sie in die Zukunft.
Als Percy schließlich auf die Füße kommt, tut sein Kopf weh. Furchtbar weh. Sein Gehirn fühlt sich an, als würde es sich heiß gegen seinen zu engen Schädel pressen. Sind sie auf dem Boot? Oder in die Stadt gelaufen? Er versucht, dem Dampfer hinterherzuschauen, doch ihm verschwimmt alles vor den Augen, er sieht doppelt. Er kann nicht klar denken. Der Schmerz brennt in allen Gehirnwindungen. Er muss sich hinlegen, damit er nachdenken und die nächsten Schritte planen kann. Er stolpert von der Anlegestelle weg, umklammert seinen Schädel. Sein Körper schmerzt und ist bleischwer, als laste das Jüngste Gericht auf ihm.
2011
Libby hatte den Vertrag immer noch nicht unterzeichnet. Der Anwalt hatte ihr versichert, dass alles in Ordnung sei, aber sie hatte noch immer nicht den Stift in die Hand genommen. Warum, wusste sie selbst nicht genau. In ihrer Phantasie hatte sie das Geld bereits ausgegeben. Sie war absolut bereit, Lighthouse Bay zu verlassen und ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. Doch den Vertrag hatte sie nicht unterzeichnet.
»Sie haben ihn vor einer Woche rausgeschickt«, sagte Tristan, als sie auf der kleinen gepflasterten Terrasse hinter dem Haus saßen. Die Luft hatte nach dem Sonnenuntergang einen zarten Blauton angenommen. Es roch verlockend nach dem Lamm, das im Ofen schmorte, und der Brandy schmeckte süß auf ihrer Zunge.
»Ich dachte, du wolltest nichts mit dem Geschäft zu tun haben?«, erwiderte sie lächelnd.
»Das will ich auch nicht. Aber ich habe gehört, wie Yann darüber sprach. Ist alles in Ordnung?«
»Ja, alles klar. Ich warte nur darauf, dass sich der Anwalt bei mir meldet. Er hat zu tun.«
»So ist das in Kleinstädten. Ich kann dir die Nummer einer guten Kanzlei in Brisbane geben.«
»Kein Problem. Mach dir keine Sorgen. Ich mache mir auch keine.« Sie lächelte knapp. »Und jetzt bitte ein anderes Thema.«
Tristan lehnte sich auf dem Stuhl nach hinten und streckte die Beine aus. »Hast du dir schon überlegt, was du machen willst, wenn du hier ausziehst?«
»Ich habe daran gedacht, nach Paris zurückzukehren.« Sie beobachtete ihn genau.
»Für immer?«
»Das weiß ich nicht. Kommt drauf an.«
»Worauf?«
»Auf viele Dinge.« Diesmal schaute sie ihn unmittelbar an und hob eine Augenbraue.
Er lächelte langsam. »Nun, falls du dich entscheidest, zu bleiben, würde ich mich gerne weiter mit dir treffen.« Er ergriff ihre Hand und strich sanft über ihre Finger. »Ich finde, du bist sehr schön.«
Sie saßen eine Weile schweigend da. Libby trank von ihrem Brandy und versuchte, die Nackenmuskeln zu entspannen. Den Entwurf für den Katalog hatte sie verschickt. Sie hatte nichts mehr zu tun. Das war jetzt die Atempause, die Zeit zwischen zwei Aufträgen. Sie versuchte, sie zu genießen, konnte aber das unbehagliche Gefühl im Bauch nicht vertreiben und war beschwipst genug, um es anzusprechen. Tristan hatte den ganzen Tag mit ihr verbracht und auch den Vorabend, und sie hatten immer noch nicht über seine »Mitbewohnerin« gesprochen. Also sagte sie unbekümmerter, als sie sich in Wirklichkeit fühlte: »Und, wie geht es deiner Mitbewohnerin?«
Ihre Blicke trafen sich. Er schaute sie lange an, und sie erkannte, dass er ihren Gesichtsausdruck deuten und herausfinden wollte, was sie vermutete und wie sie sich dabei fühlte.
»Schon gut. Ich weiß, dass sie nicht deine Mitbewohnerin ist. Ich habe dir nie von Mark erzählt, oder? Wir waren zwölf Jahre zusammen. Die ganze Zeit über war er mit einer anderen Frau verheiratet.«
Tristan nickte. »Ich habe nicht gelogen, als ich sagte, ich sei nicht verheiratet. Das bin ich auch nicht. Aber wir haben vier Jahre zusammengelebt. Es funktioniert nicht. Wir schlafen in getrennten Betten. Aber sie hat Probleme mit dem Loslassen. Also ist sie im Grunde genommen nicht mehr als eine Mitbewohnerin. Ich versuche, ihr vor Augen zu führen, dass sie sich eine andere Unterkunft suchen muss.«
Wir schlafen in getrennten Betten. Das hatte Mark auch gesagt. Vielleicht sagte das jeder untreue Ehemann.
»Und was glaubt sie, wo du jetzt bist? Was hat sie letzte Nacht geglaubt?«
»Dass ich in Perth bin«, gestand er.
Libby fiel ein, dass er auch ihr vorgegaukelt hatte, er sei in Perth. War Perth einfach nur ein Deckname für »bei einer anderen Frau«?
»Hasst du mich jetzt?« Er klang verletzlich wie ein kleiner Junge.
»Nein. Ich kann schlecht über dich urteilen. Wenn du sagst, es ist vorbei …«
»Definitiv. Ich nehme an, sie wird bis Ende nächsten Monats ausgezogen sein.«
Libby dachte darüber nach. Sie hatte nicht den Wunsch, weitere zwölf Jahre als Geliebte zu verbringen, aber sie konnte Tristan bis Ende nächsten Monats Zeit geben. Wenn er dann immer noch Ausreden vorschob, würde sie den Flug nach Paris buchen. Dann wäre sie schon eine reiche Frau. Bei dem Gedanken musste sie lächeln.
»Du bist ein gutes Mädchen, Libby.« Er trank sein Glas aus. »Manche Frauen … setzen sich etwas in den Kopf und machen sich das Leben richtig schwer. Beziehungen sind kompliziert. Chaotisch und nicht ideal. Aber mit dir macht es Spaß.«
»Ja, mir macht es auch Spaß.« Sie sprang auf. »Ich sollte mal nach dem Braten sehen.«
Sie ging in die Küche. Durchs Fenster konnte sie seine hinter dem Kopf verschränkten Hände sehen, seine breiten Schultern in der gutsitzenden Kleidung. Er war in vieler Hinsicht genau richtig für sie: intelligent, ausgeglichen, stark, gutaussehend. Aber er hatte sie belogen. Indirekt, indem er gesagt hatte, er sei nicht verheiratet, statt seine Situation zu erklären. Und direkt, indem er seine Freundin als Mitbewohnerin bezeichnet hatte. Er hatte sich schützen wollen. Das konnte sie verstehen. Jeder wollte sich instinktiv selbst schützen oder im besten Licht darstellen oder seine Interessen wahren.
Aber er hatte gelogen. Einfach so. Ohne mit der Wimper zu zucken.
Libby erinnerte sich an ihr erstes Gespräch. Seine Pläne für eine Öko-Ferienanlage, die Zusicherung, dass sich in Lighthouse Bay nichts verändern würde. Zum ersten Mal zweifelte sie an ihm. Er hatte sie bezüglich seiner Beziehung belogen. Was sollte ihn daran hindern, auch bei anderen Dingen zu lügen?
Das Telefon klingelte um vier Uhr morgens. Libby brauchte einen Augenblick, um wach zu werden. Tristan schlief ruhig neben ihr auf dem Bauch, die frühe Morgenluft strich über seinen glatten, muskulösen Rücken.
Er regte sich und murmelte: »Telefon?«
»Ja«, sagte sie leise. »Schlaf weiter.« Sie schlug die Decke zurück und stolperte ins Wohnzimmer. Griff nach dem Hörer. »Hallo«, meldete sie sich mit heiserer Stimme.
»Du lieber Himmel«, sagte die energische Frauenstimme am anderen Ende. »Da habe ich wohl die Zeitverschiebung nicht bedacht.«
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