Ich sagte nicht, dass dasselbe auf sie zutraf, wenn sie von Chris sprach; ich sagte es nicht, weil es in mir gemischte Gefühle auslöste. Einerseits freute es mich als ihr Freund, dass sie so lebhaft war, und ich wusste ja auch, dass es ein Zeichen von Zuneigung war, dass sie mich so ins Vertrauen zog – ich hatte sie nie über Chris sprechen hören, wenn sie sich mit anderen unterhielt –, andererseits hätte ich gern eine Beziehung mit ihr begonnen, die auf mehr als nur Freundschaft fußte, und in der Stärke ihrer anhaltenden Bindung zu Chris spürte ich einen Rivalen – auch wenn er tot war –, mit dem ich wahrscheinlich niemals würde mithalten können. Die Tante, die ich erwähnt hatte, war in nahezu jeder Hinsicht anders als Erica: Sie war füllig, wollte immer nur mit dem Motorroller fahren, trug einen Rucksack, der häufig mit Mitbringseln für ihre jungen Nichten und Neffen vollgestopft war, und lebte von einer kleinen Witwenrente. Das aber war meine Tante mit fünfundvierzig; die Frau, die einem im Alter von zweiundzwanzig Jahren keck aus Fotos entgegenblickte, war selbstsicher und quälend attraktiv. Ich konnte nur ahnen, wie viele Verehrer sie abgewiesen hatte, und ich fragte mich, ob mein Verlangen nach Erica ebenso aussichtslos war.
Ericas Gesicht war jetzt entspannt; sie unterdrückte sogar ein Gähnen, als sie den Kopf an meine Schulter legte. Am Beginn des Abends war sie jedoch verstört gewesen, von Sorgen und Befürchtungen erfüllt. Wie so viele andere in der Stadt wirkte sie nach den Anschlägen zutiefst verängstigt. Doch ihre Ängste schienen nur indirekt etwas mit der Vision zu tun zu haben, durch Terroristen zu sterben. Durch die Zerstörung des World Trade Center waren, wie sie gesagt hatte, alte Gedanken in ihr aufgewühlt worden, die sich gleich einem Sediment am Boden eines Teichs abgesetzt hatten; nun war das Wasser ihres Geistes trüb von dem, was zuvor ignoriert worden war. Ich wusste nicht, ob das auch für mich galt.
Wir schritten schweigend durch die Nacht, und wie der Zufall es wollte – nein, ich bin nicht ehrlich; der Zufall hatte nichts damit zu tun –, standen wir plötzlich vor meinem Wohnhaus. »Kann ich mit hochkommen?«, fragte sie. »Ich möchte gern sehen, wie du wohnst.« Ich hörte mein Herz hämmern, als wir die Treppe hinaufgingen; mein Studio lag im dritten Stock, einen Aufzug gab es nicht, Sie können sich also gut vorstellen, dass es einige Stufen zu überwinden galt. Mir war ein wenig bang davor, wie sie mein Studio wohl finden würde – schließlich war es nur einen kleinen Bruchteil so groß wie ihr Zuhause –, doch ich redete mir ein, dass es einen gewissen literarischen Charme besaß. »Es ist perfekt«, sagte sie und setzte sich auf den Rand meines Futons, der noch immer in seiner ausgerollten Bettversion dalag.
Sie schloss die Augen, lehnte sich auf die Ellbogen zurück und lächelte schläfrig wie ein vertrauensvolles kleines Mädchen. Meine Blase war kurz vorm Platzen, daher sagte ich, ich sei gleich wieder da, und sauste auf die Toilette. Als ich wiederkam, schlief sie schon tief. »Erica?«, sagte ich. Keine Antwort. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und zögerte, bis ich schließlich das Licht ausmachte. Die Jalousien waren oben; der nächtliche Schein Manhattans fand seinen Weg herein, und ich beobachtete, wie sich ihre Brust beim Atmen sanft hob und senkte. Dann deckte ich sie mit einem Laken zu und warf ein Kissen für mich auf den Fußboden. Ich war erschöpft und hatte zusätzlich noch Jetlag, dennoch musste ich lange warten, bis mich Träume umfingen. Ich wachte am Morgen nicht auf, als sie mich, wie ich später erfuhr, vor dem Gehen auf die Stirn küsste.
Aber schauen Sie! Da kommt ein Blumenverkäufer. Ich rufe ihn zu uns. Ihnen ist nicht danach? Aber gegen eine Blumenkette aus Jasminblüten haben Sie doch sicher nichts einzuwenden. Hier, nehmen Sie sie in die Hand: Haben sie nicht die Struktur von Samtkugeln? Eher wie von Popcorn-Shrimps, sagen Sie? Ach, Sie machen Witze; einen Moment lang habe ich geglaubt, Sie meinen es ernst. Doch Sie haben mich dadurch an eine Köstlichkeit erinnert, die uns hier in Lahore völlig fehlt, da wir so weit vom Meer entfernt sind. Was würde ich nicht alles für einen Topf amerikanischer Popcorn-Shrimps geben – in Teig ausgebacken, bis sie goldbraun sind, und mit einem Tütchen Tomatensoße serviert! –, aber ich muss mich mit den Blumen hier begnügen: in New York so selten, hier so normal.
Wo war ich stehen geblieben? Richtig, ich habe Ihnen von Erica und meiner Rückkehr nach New York erzählt. Nachdem sie in meiner Wohnung geschlafen hatte, ging sie mit erfreulicher Regelmäßigkeit mit mir aus. Ich begleitete sie zu Spendenaktionen, wo sie Geld für die Opfer des World Trade Center sammelte, zu Essen in den Häusern ihrer Freunde – und es waren tatsächlich Häuser, Brownstones, die als Einfamilieninseln im Manhattaner Wohnungsmeer erhalten waren –, zu Eröffnungen und privaten Besichtigungen für Förderer der Künste. Ich wurde praktisch ihr offizieller Begleiter bei den Events der New Yorker Society.
Diese Rolle gefiel mir sehr. Ich war tatsächlich so vermessen zu glauben, dass mein Leben genau so sein sollte , dass es gewissermaßen unausweichlich war, mit den richtig Reichen in solch gehobenen Sphären zu verkehren. Erica bürgte dafür, dass ich ihrer Kreise würdig war; meine Art des Auftretens zeugte – so redete ich mir ein – von meiner tadellose Kinderstube, und bei denen, die weitere Fragen stellten, genügten stets mein Abschluss in Princeton und meine Visitenkarte von Underwood Samson, um ein respektvolles, zustimmendes Nicken zu ernten.
Rückblickend erkenne ich nun, dass dieser Situation eine gewisse Symmetrie anhaftete: Ich spürte, dass ich in New York in genau die soziale Schicht eintrat, aus der meine Familie in Lahore zunehmend herausfiel. Vielleicht erklärte das zu einem Großteil das Behagen und die Befriedigung, die ich in meiner neuen Umgebung fand. Doch ein noch größerer Teil meines Glücks jener Tage ging darauf zurück, dass ich regelmäßig in Ericas Gesellschaft war. Ich konnte sie, ungelogen, stundenlang betrachten. Der Stolz in ihrer Haltung, die muskulöse Schlankheit ihrer Arme und Schultern, das Unvermögen ihrer Kleider, die Erinnerung an die nackten Brüste zu verhüllen, die ich in Griechenland gesehen hatte: All das erfüllte mich mit Begehren.
Doch ebenso erfüllte mich Fürsorglichkeit. Häufig, wenn wir inmitten einer makellos gekleideten Menge standen oder saßen, beobachtete ich, dass sie völlig losgelöst war, versunken in ihre eigene Welt. Ihr Blick war nach innen gerichtet, und Bemerkungen ihrer Begleiter waren ihrem Gesicht nur indirekt abzulesen, so wie Wolkenschatten, die über einen See gleiten. Sie lächelte, wenn man sie darauf aufmerksam machte, dass sie abwesend wirkte, und sagte, sie sei mal wieder geistig weggetreten . Doch ich vermutete zunehmend, dass ihre Pausen nicht lediglich der Geistesabwesenheit geschuldet waren; nein, sie kämpfte gegen einen Strom an, der sie mitzureißen drohte, und ihr Lächeln enthielt die Furcht, sie könnte in ihre eigenen Tiefen abgleiten, wo sie gefangen wäre und nicht atmen könnte. In diesen Momenten wünschte ich, ich könnte ihr Anker sein, ohne so geschmacklos zu sein, sie spüren zu lassen, dass dies eine Rolle war, die meiner Meinung nach irgendwer bei ihr übernehmen musste. Ich fand heraus, dass ich ihr dies am besten vermittelte, indem ich eine Berührung mit ihr provozierte, zum Beispiel meine Hand auf den Tisch so dicht wie möglich an ihre legte, ohne dabei Kontakt herzustellen, und dann darauf wartete, dass sie sich meiner körperlichen Präsenz bewusst würde, worauf sie, als erwachte sie aus einem Traum, den Kopf schütteln und die Kluft zwischen uns mit einer kleinen Zärtlichkeit überbrücken würde.
Vielleicht hielt mich aber gerade diese Fürsorglichkeit davon ab, Erica zu küssen; ebenso mochten es Schüchternheit und Ehrfurcht gewesen sein, die Begleiter der ersten Liebe. Wie auch immer, mehrere Wochen vergingen, bis Erica mich eines Abends, nach einem burmesischen Essen im East Village, ihre Freunde winkten schon Taxis heran und gingen auseinander, zurückhielt. »Ich muss dir was erzählen«, sagte sie. »Ich möchte feiern.« »Warum?«, fragte ich. »Weil«, sagte sie breit lächelnd und drückte die Fingerspitzen zusammen, »weil ich einen Agenten habe!« Ihre anfänglichen Versuche, ihr Manuskript wahllos anzubieten, seien erfolglos geblieben, erklärte sie. Unlängst habe sie es aber an eine Agentur geschickt, die einen Freund der Familie vertrat, und nun habe eben am Nachmittag ein Junioragent eingewilligt, sie anzunehmen. Bedenken habe er nur bezüglich der Länge – da die Novellenform, so seine Worte, eine knifflige Sache sei –, doch nach einigem Nachdenken sei er zu dem Schluss gekommen, sich bei einigen Verlagen dafür starkzumachen. Ich gratulierte ihr und sagte, ich wolle sie liebend gern bei jedem Abenteuer begleiten, das sie für den Abend vorhabe; sie schlug vor, eine Magnumflasche Champagner zu kaufen und damit in meine Wohnung zu gehen, die gleich um die Ecke lag.
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