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Da'ud ging in die Hocke, reckte den Rücken gerade und streckte müde die Arme von sich. Seit dem frühen Morgen kniete er hier in der Bibliothek des Sultans in einer abgeschiedenen Ecke auf einem Stapel Kissen, war über die in Leder gebundenen Folianten gebeugt, die sich vor ihm auf einem niedrigen Tisch auftürmten. Eine Sondergenehmigung erlaubte ihm, die Bibliothek auch an einem Freitag zu betreten. Nun war er dort allein mit dem alten wachhabenden Christen in dem großen mit Zedernholz getäfelten Raum. Eher um der Vollständigkeit willen als in der Hoffnung, irgend etwas Wichtiges für seine Studien zu erfahren, hatte er begonnen, die berühmten arabischen Fassungen der Schriften des Hippokrates und des Galen zu studieren, Übersetzungen, die Hunayn ibn Ishaq und Ali ibn Rabban al-Tabari vor beinahe einem Jahrhundert in Bagdad angefertigt hatten. Seit Jahren hatte er sich schon gewünscht, einmal auch nur einen flüchtigen Blick auf die reich illustrierten Abschriften in der Palastbibliothek werfen zu dürfen, aber nun hatte er nicht viel Zeit, die winzigen, an Teppichmuster gemahnenden Verzierungen zu bewundern, die zart wie ein Frauenschleier den Anfang jedes Abschnittes schmückten.
Ohne große Mühe fand er die Passagen, die sich mit Gegengiften beschäftigten, aber als er auf die Liste der Zutaten für den Großen Theriak stieß, stand er vor der gleichen undurchdringlichen Mauer wie all die anderen Gelehrten, die ihm vorangegangen waren. Die abgegriffenen Spalten dieser Abschnitte legten ein beredtes Zeugnis darüber ab, wie viele Finger sie auf der Suche nach dem gleichen unergründlichen Geheimnis schon betastet hatten. Ein Vergleich mit den griechischen Originalen erwies sich als praktisch unmöglich, so alt, abgegriffen und verblaßt waren die Abschriften in der Bibliothek. Doch selbst wenn sie sich in einem besseren Zustand befunden hätten, sie hätten ihm nur wenig genutzt, das wußte Da'ud. Was konnte er wohl zu entziffern hoffen, das Hunayn und al-Tabari nicht bereits erfaßt hatten? Beide gaben eine sehr ähnliche Liste von Zutaten: Opium, nach strengen Vorschriften gekochtes Schlangenfleisch, sowie achtunddreißig Gewürze und Kräuter, darunter frisches Salz und feuchter Dill. Beide berichteten, daß zwei Zutaten noch nicht identifiziert werden konnten, wobei Hunayn schrieb, er wisse nicht, auf welche Pflanze sich die griechischen Worte bezögen. Andererseits hatte al-Tabari einige Jahre in Persien gelebt und merkte an, das griechische Wort Vatermörder sei im Sanskrit motscha. Sonst nichts. Auch bei der zweiten Pflanze war Hunayn wenig hilfreich, aber al-Tabari machte die Angabe handakuka, ebenfalls ohne jegliche weitere Erklärung. Methodisch durchforstete Da'ud alle anderen Abschnitte der Übersetzung und suchte dabei nach weiteren Bezügen auf die beiden Zutaten oder auf deren Eigenschaften, aus denen sich vielleicht auf deren Art und Gattung schließen ließe. Aber vergebens.
Er rieb sich die müden, roten Augen, stand auf und ging zum anderen Ende des dunklen Gemachs, um den Wächter der kostbaren Manuskripte der Bibliothek zu finden. Der spindeldürre, weißhaarige alte Mann saß im Schneidersitz auf einem Seidenkissen in der Nähe der großen Holztür, sein Kopf baumelte im Schlummer der Alten hin und her. Plötzlich aus dem Schlaf aufgeschreckt, erhob sich der Wächter langsam und entschuldigte sich wortreich für seine Unaufmerksamkeit.
»Ich würde mir gerne al-Kindis Pharmakologie ansehen, falls sie vorhanden ist.«
Das, hatte Da'ud beschlossen, sollte die letzte gelehrte Schrift sein, die er befragen wollte. Wenn auch sie, wie er erwartete, keine neuen Erkenntnisse brächte, müßte er seine akademischen Recherchen beenden und sich unkonventionelleren Forschungsmethoden zuwenden.
»Kommt mit, junger Mann. Das Manuskript liegt in einem der unteren Kästen, und meine alten Knochen sind zu steif, als daß ich mich so weit hinunterbeugen könnte.«
Die Scharniere des fein geschnitzten Deckels quietschten, als Da'ud ihn anhob und sich hinabbeugte, um den Band herauszunehmen, auf den der alte Mann deutete. Aber als er das machte, fiel sein Blick auf ein dünnes Pamphlet, das kaum erkennbar unter einer dicken Staubschicht am Boden des Kastens lag.
»Was ist das?« fragte er, hob es auf und pustete den Staub herunter, ehe er die Titelseite vor die kurzsichtigen, wäßrigen Augen des Wärters hielt. Der blinzelte auf die säuberliche, aber schmucklose Kalligraphie und antwortete: »Das ist ein altes Werk von Qusta ibn Luqa, einem minderen Gelehrten, um dessen Meinung sich heute niemand mehr schert.«
»Darf ich es einmal ansehen?«
»Wenn Ihr es wünscht«, antwortete der Alte und schlurfte zu seinem Kissen zurück.
Da'uds Müdigkeit war auf einmal wie weggeblasen. Er eilte zu seinem Platz zurück und schlug das längst vergessene Werk auf dem Tisch auf. Wie in den antiken Arbeiten, die er studiert hatte, war auch hier ein Abschnitt den Gegengiften gegen Schlangenbiß gewidmet, und auch hier wurde eine Liste mit den Zutaten für den Großen Theriak aufgeführt. Obwohl die Schrift kaum leserlich war, schien sie doch beinahe genau den Listen des Hunayn und des al-Tabari zu entsprechen. Allerdings stand bei der letzten Gruppe von Pflanzenarten ein Name, neben dem zwei Zeilen in kleinerer Schrift eingefügt waren, nicht von der gleichen Hand geschrieben und mit einem rechteckigen Rahmen umgeben. Den Namen entzifferte er recht schnell: Vatermörder! Da'uds Finger bebten vor Erregung, als er das Büchlein näher zum Fenster schob, so daß das Licht unmittelbar auf die beiden hinzugefügten Zeilen fiel. Sie waren mit einer schlechteren Tinte zu dem restlichen Manuskript hinzugefügt worden, und die Buchstaben waren nur noch sehr schwach zu sehen, waren beinahe unsichtbar. Er zwang sich zur Ruhe und begann mit unendlicher Geduld mit dem Zeigefinger die Längen und Kurven der Buchstaben nachzufahren, die er schwach ausmachen konnte, fuhr sie mit einer natürlichen Bewegung nach, als schriebe er selbst. So hoffte er die fehlenden Zeichen zu erraten, die, wenn er sie einmal entziffert hatte, eine Beschreibung der Pflanze ergeben mußten.
Er war so sehr in seine Arbeit vertieft, daß er nicht hörte, wie sich der Wächter genähert hatte. »Es ist Zeit zu gehen. Bald bricht die Abenddämmerung herein, und Ihr werdet nicht mehr genug Licht haben. Außerdem fängt bald Euer Sabbat an«, fügte er noch hinzu.
»Nur noch ein kleines bißchen«, murmelte Da'ud, ohne den Kopf zu erheben, »bis das Licht ganz erloschen ist.«
»Nun gut«, stimmte der Alte widerwillig zu, »aber keinen Augenblick länger. Kerzen sind hier verboten. Aber sagt mir, was ist für Euch von solchem Interesse, daß Ihr sogar bereit seid, Euren heiligen Sabbat dafür zu schänden?«
»Persisch«, murmelte Da'ud, den Kopf immer noch über den Text gebeugt. »Ein Freund meines Vaters aus Kindertagen, ein Kaufmann aus Esfahan, braucht dringend die Namen bestimmter Heilmittel, die ihm mein Mentor gegen seinen trockenen Husten verschrieben hat, der ihn manchmal sogar Blut spucken läßt. Er will sich unmittelbar nach dem Sabbat auf den Heimweg machen, und ich habe versprochen, ihm nach bestem Können zu helfen.«
»Und dafür hat man Euch eine Sondergenehmigung zum Betreten der Palastbibliothek sogar am Freitag gewährt?«
»Mein Vater, das Oberhaupt der jüdischen Gemeinde von Córdoba, hat hervorragende Beziehungen zum Verwalter.«
Mit dieser Erklärung gab sich der alte Mann zufrieden. Er schlurfte davon, setzte sich stillschweigend noch eine Weile auf sein Kissen und kam dann, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen, zurückgeschlurft.
»Da Ihr danach trachtet, das Leiden eines Kranken zu lindern, könnte ich vielleicht die Regeln ein wenig beugen und Euch eine Kerze bringen, aber nur für sehr kurze Zeit.« Er trat eine Weile unschlüssig von einem Fuß auf den anderen, ehe er fortfuhr: »Wenn Ihr später wieder einmal in die Bibliothek zurückkehren solltet, könntet Ihr vielleicht Euren Mentor nach einem Heilmittel für meine schmerzenden Gelenke fragen.«
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