Teil IV –
Die Feuer der Inquisition
Selbst wenn mein eigener Vater ein Häretiker wäre, würde ich das Holz für seinen Scheiterhaufen sammeln, um ihn zu verbrennen.
Gian Pietro Carafa, Großinquisitor, später Papst Paul IV.
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Florenz, Anno Domini 1533
Die Stadt lag vor ihm wie eine untreue Geliebte, von der er doch nicht lassen konnte, aus Gewohnheit und weil niemand mehr zu bieten hatte als sie. Als Rom geplündert und gequält worden war, hatte Michelangelo sich gottlob am Arno aufgehalten und darüber gestaunt, dass die Prophezeiung des als Ketzer verschrienen Abtes Joachim von Fiore, die dieser einst in seinem »Liber de Concordia Novi ac Veteris Testamenti« formuliert hatte, tatsächlich eintraf. Eines Tages, hatte der Abt aus Kalabrien geschrieben, würde Rom, das neue Babylon, für seinen Hochmut gezüchtigt werden. Und so war es schließlich gekommen. Sie alle – die Päpste, die Humanisten und die Künstler – hatten in ihrem Hochmut und ihrer Eitelkeit daran geglaubt, sich in ihren Werken zu verewigen. Doch ihre Skulpturen waren von den Landsknechten zerschlagen, ihre Bilder und Bücher von den Söldnern verbrannt worden und ihre Palazzi fielen den Geschossen der Feldschlangen zum Opfer.
Auch er hatte diesem selbstgerechten Glauben gefrönt, den die rauen Winde der Wirklichkeit erbarmungslos vor sich hergetrieben und schließlich zum Zerstieben gebracht hatten. Nichts auf der Welt war ewig – nur Gott. Das hatte Michelangelo einsehen müssen. Die ihn zutiefst verstörende Erkenntnis lautete, dass selbst die Kunst so vergänglich war wie der Mensch. Die Ewigkeit gehörte Gott allein, und er ließ sich kein Gran davon abhandeln.
Einst hatte Michelangelo dem Hof Leos X. stolz den Rücken gekehrt und sich der Republik Florenz zur Verfügung gestellt, erst als Künstler und später, als Clemens VII. die Stadt erneut den Medici unterwerfen wollte, als Festungsbaumeister, weil er meinte, die republikanische Ordnung verteidigen zu müssen. Doch dann hatte sich Kaiser Karl V. nach der grausamen Plünderung Roms durch seine unbezahlten Truppen mit dem Papst versöhnt und diesem die stolze Arnostadt sozusagen geschenkt. Die Republikaner wurden vertrieben oder flohen.
In den Wirren des Umbruchs bangte Michelangelo als Parteigänger und Vertreter der Republik um sein Leben und versteckte sich in der Kirche Santa Maria del Carmine. Dort hatte ihm ein halbes Jahrhundert zuvor, als er mit Contessina die Fresken Masaccios betrachten wollte, ein mittelmäßiger Bildhauerschüler die Nase gebrochen. Ach, Torrigiani! Auch er lebte schon lange nicht mehr; er war vor vielen Jahren in Spanien im Kerker der Inquisition verreckt, wie er von irgendjemand gehört hatte. Wie seltsam das Leben doch war.
Nun versteckten ihn die guten Franziskaner vor der Rache der Medici, und er kämpfte dagegen an, von der Erinnerung an seine erste Liebe übermannt zu werden. »Wenn du einmal Baumeister werden solltest, Michelangelo, dann schaff sie für mich, die Kuppel des Himmels. Als Erinnerung an unsere Liebe«, hatte Contessina ihm damals zum Abschied gesagt, als sie im Florentiner Dom unter Brunelleschis Kuppel standen und meinten, sterben zu müssen. Kurz darauf war er aus Florenz geflohen, aus panischer Angst, für einen Anhänger der Medici und Feind der Republikaner gehalten zu werden. Und nun verkroch er sich, weil er fürchtete, dass man ihn für einen Gegner der Medici, für einen Republikaner hielt. Die Welt fieberte in den Krämpfen des Irrsinns, dachte Michelangelo. Was Cosimo und Lorenzo niemals erreicht hatten, das gelang nun Alessandro de Medici: Er wurde Herzog der Republik Florenz und somit Alleinherrscher. Es sollte noch absurder kommen.
Nach ein paar ungemütlichen Tagen in den Grüften der alten Kirche erreichte Michelangelo die Nachricht des MediciPapstes Clemens VII., dass er dem Künstler nichts nachtrüge und ihn gern wieder in seine Dienste nähme. Sie trafen sich im September 1533 in San Miniato al Tedesco auf dem Gebiet der Stadt Siena, weil sich der Papst weigerte, das treulose Florenz zu betreten. Am Ende ihres langen Gesprächs beauftragte ihn der Pontifex damit, die Altarwand der Sixtinischen Kapelle mit einem riesigen Fresko zu schmücken, nämlich mit dem Jüngsten Gericht. Nach den Erfahrungen, die Clemens VII. persönlich bei dem Sacco di Roma gemacht hatte – erst als Belagerter in der Engelsburg, dann als Gefangener der Landsknechte, schließlich als Emigrant –, musste ihm der Furor der Söldner als wahres Jüngstes Gericht, als Bestrafung der Ewigen Stadt und des Stellvertreters Christi für ihre Sündhaftigkeit und ihren Hochmut vorgekommen sein. Nichts lag also näher, als den Künstler, der die Schöpfungsgeschichte an die Decke gebannt hatte, mit der Freskierung des Strafgerichts an der Altarwand zu beauftragen.
Michelangelo schob diesen Auftrag unwillig vor sich her, denn er mochte sich dieser gewaltigen Anstrengung nicht mehr unterziehen – er war inzwischen fast sechzig Jahre alt. Anderseits konnte er den Auftrag des Papstes, der ihn in Gnade wiederaufgenommen hatte, nicht ablehnen. Also reiste der Künstler unschlüssig zwischen der Arnostadt und der Tibermetropole hin und her, bis der Tod des Papstes endlich Alessandro Farnese, der sich Paul III. nannte, mit der Tiara schmückte. Die Archiconfraternita hatte für den Kardinal Farnese geworben, besonders der Bischof Gian Pietro Caraffa und die zu den Zelanti gehörenden Kardinäle hatten schließlich die Entscheidung im Konklave bewirkt.
Damit waren auch für Michelangelo die Würfel gefallen. In Florenz herrschten zum ersten Mal unbeschränkt die Medici, während der letzte Papst aus ihrer Familie verstorben und an seine Stelle ein Pontifex gerückt war, der Michelangelo heftig umwarb. Hinzu kam, dass sein Vater in diesem Jahr verstorben und damit das letzte Tau gekappt war, das ihn noch an die Stadt band. Fast befreit verließ er die Arnometropole, die eine schwärende Wunde in seinem Herzen blieb und in die er doch niemals mehr zurückkehren sollte. Und als ob sie das wusste, peinigte sie ihn, als er durch die Porta di San Pietro Gatolini ritt, wie eine liebende Mutter in einem letzten verzweifelten Versuch, ihn zu halten, mit den Bildern der Erinnerung an seine frühen Jahre. Er sah sich wieder an der Tafel Lorenzos des Prächtigen, als sie noch alle junge Burschen waren – Piero, Giovanni, Giuliano, der nachmalige Herzog von Nemours und der Liebenswürdigste von allen, sowie ihr Cousin Giulio. Keiner von ihnen war mehr am Leben, auch Ficino nicht, auch Poliziano nicht und auch nicht Landino, der ihn in Dantes »Göttliche Komödie« eingeführt hatte.
Michelangelo zog mit Francesco wieder in den Macello dei Corvi und begann sogleich mit den Entwürfen, während seine Gehilfen die Gerüste in der Sixtina vor der Altarwand errichteten. Anfangs macht er sich widerwillig an die Ausführung, doch die Arbeit zog ihn allmählich mit sanfter, aber unwiderstehlicher Gewalt immer stärker in ihren Bann. In einer Eruption aus Farben spie er seine Ratlosigkeit in die Welt. Im Mittelpunkt stand ein jugendlicher Christus, der eher an den heidnischen Apollon als an den christlichen Jesus erinnerte. So kraftvoll führte Michelangelo die Geste der Verdammung aus, die in ihrer halbkreisförmigen Bewegung alle Figuren in Aktivität versetzte, dass sich selbst Maria, die Gottesmutter, von ihrem Sohn abwandte, weil sie das Leid und den Schmerz der Verurteilten nicht mit ansehen konnte.
All die Menschen, die Michelangelo malte – Gerechte und Sünder –, versuchten sich so schnell in den Himmel wie in eine sichere Burg zu flüchten, als nahe eine feindliche Streitmacht. Ja, wenn man sie nur ließe, konnten sie gerettet werden! Aber viele ließ man eben nicht. Teufel packten sie und schleppten sie in die Hölle. Und als ob das nicht an sich schon genügte, schlugen die Engel mit den Fäusten auf sie ein und traten mit ihren kräftigen Füßen nach ihnen, um ihnen unter Einsatz der rohesten Gewalt den Eintritt zu verwehren. Er war nicht Raffael, von seinen Engeln ging keine Sanftheit aus, weil er die Lieblichkeit nicht kannte, nur den Ausdruck der geschundenen Welt, wie er sich in der Bewegung der Körper und der wilden Kontraktion der Muskeln offenbarte.
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