Antonio legte seinen Arm um die Schulter des jungen Mannes. »Ach, weißt du, mein Sohn – denn das sollst du von jetzt ab sein –, ich will versuchen, so gut ich kann, dir deinen Vater zu ersetzen. Als ich deinen Vater kennenlernte, hat er zwar behauptet, dass er ein Meister wäre, aber er war keiner. Ein Unternehmer war er, ein kluger, ein ausgefuchster, mit Mut, mit sehr viel Mut.« Arnoldo stöhnte leise. »Und ich denke doch, dass sein Blut in deinen Adern fließt.«
Der Architekt half dem jungen Mann, der in der Tat die Begabung seines Vaters für das Baugewerbe geerbt hatte, das Familienunternehmen wieder aufzubauen. Während Arnoldo und seine Maurer die Zerstörungen an Antonios Palazzo beseitigten, konnte dieser den jungen Mann bei der Führung seiner Männer beobachten und ihm Ratschläge erteilen. Nur das Atelier wollte Antonio allein renovieren.
Den ganzen Tag über hatte er die Wände verspachtelt, die Spuren von Hellebarden- und Schwerthieben aufwiesen. Sicher hatten die Söldner ihre Wut am Mobiliar und den Wänden ausgelassen, nachdem der flüchtige Spanier Hilfe geholt und den Palazzo leer vorgefunden hatte. An einer Stelle entdeckte er ein kleines Loch in der Wand. Er fasste mit dem Zeigefinger hinein und erfühlte, dass dahinter ein Hohlraum lag. Mit einem Stemmeisen und einem Hammer schlug er den Putz ab, der die Vertiefung verschloss. Vor ihm öffnete sich eine Nische, etwa zwei Handbreit tief und etwas über zwei Fuß hoch, in der zwei Bücher lagen. Antonio nahm sie heraus und ging mit ihnen zum Fenster, um zu sehen, worum es sich handelte. Enttäuscht stellte er fest, dass es sich bei dem einen Buch um ein Exemplar von Dantes »Göttlicher Komödie« handelte.
Weshalb hatte Donato es versteckt? Das Werk genoss doch den besten Ruf. Antonio begann, darin zu blättern. Schließlich stieß er auf den zweiten Teil, auf ein Buch, das in einer Sprache verfasst war, die er nicht kannte. Rasch wurde ihm klar, dass der zweite, nur halb so dicke Band die Übersetzung des ersten enthielt. Ihm stockte der Atem. Vor ihm lag das »Buch der Baumeister«, das Bundesbuch der Fedeli d’Amore . Die Liste der Priore des Bundes am Ende des Originals beeindruckte ihn. Dann versenkte er sich in die Lektüre der Übersetzung. Als die Dunkelheit ins Zimmer floss, holte er sich einen Krug mit Wein und ein paar Kerzen. Niemand trieb ihn, er studierte das Buch. War er nicht der letzte Prior der Gefährten der Liebe? Hatte ihn nicht Donato kurz vor seinem Tod eingesetzt? Nur war er nicht mehr dazu gekommen, ihm zu verraten, wo er das Buch versteckt hatte.
Für einen kurzen Moment erwog Antonio den Gedanken, den Bund wiederzubeleben. Doch wozu? Es gab nur noch zwei Fedeli – ihn selbst und Baldassare Peruzzi. Beide hatten sie kein Interesse an Politik. Und auch nicht an philosophischen und theologischen Spekulationen. Das verdarb das Geschäft und brachte einen nur in Schwierigkeiten. Zudem hatte der Sacco di Roma alle hochgespannten Vorstellungen von der Göttlichkeit und Ewigkeit der Kunst der grausamen Lächerlichkeit preisgegeben. Selbst wenn er daran zweifeln wollte, musste er nur durch Rom gehen und sich die geschändeten Kirchen, die zerstörten Kunstwerke anschauen, um zu erkennen, dass sich die Fedeli gründlich geirrt hatten. Liebe war nur Trug und die Kunst so verletzlich wie der Mensch. Nicht die Philosophen, nicht die Künstler und Dichter beherrschen die Welt, nicht ihre Ideen und Kunstwerke, sondern schlicht und einfach die Gewalt und der Zufall.
Antonio da Sangallo hatte seine Lektion gelernt. Es ging nur darum, dass man sich in der Welt behauptete, um sich und den Seinen ein gutes Auskommen zu sichern. Es war an der Zeit, dass die Familie Sangallo das Baugeschehen in Rom beherrschte. Aufträge und Arbeit gab es nach dem Sacco zur Genüge. Dennoch las er mit der größten Neugier im »Buch der Baumeister«, denn er wusste, dass Bramante ihm noch immer weit überlegen war. Bis zu diesem Tag verstand er nicht alle Ideen seines Meisters. Aber wenn er das geheime Wissen studiert hatte, würde er vielleicht endlich auf einer Stufe mit ihm stehen.
So verging eine gute Woche. Am Ende war Antonio ermüdet von den vielen theoretischen Spekulationen und dankbar für ein paar neue Berechnungsarten, in die ihn das Buch einführte. Nie würde er, der ein versierter Architekt war, erfahren im Umgang mit den Bauunternehmern, von denen ihm keiner etwas vormachen konnte, was die Lösung praktischer Probleme betraf, Donato Bramante verstehen können. Zwischen Fleiß und Inspiration hat Gott eine Grenze gesetzt, und Antonio war zwar sehr fleißig und auch begabt, aber nicht inspiriert. So stellte er beide Bücher nach der Lektüre auf das kleine Bücherregal in seinem Atelier. Nein, wären sie nicht gestorben, dann hätte der Sacco di Roma den Gefährten der Liebe den Garaus gemacht.
Im frühen Herbst, noch bevor die Blätter fielen und es kühl wurde, brachte Ascanio Lucrezia und die Kinder zurück nach Rom. Nur Eugenio, der in Florenz eine Witwe gefunden und sie geheiratet hatte, blieb in der Arnostadt zurück. Die beiden Söldner hatten so tief bewegt voneinander Abschied genommen, als seien sie sicher, sich nicht mehr wiederzusehen.
Antonio hatte inzwischen den Palazzo vollkommen instand gesetzt und seine Arbeit am Petersdom wiederaufgenommen. Der Tod des Kardinals Catalano hatte eine Last von seinen Schultern genommen. Er war von dem Versprechen, das ihm die Lust am Bauen genommen hatte, erlöst. Nun endlich wollte er wieder dort anschließen, wo Donato geendet hatte. Zurück zum Zentralbau!
Doch der Geldmangel behinderte die Wiederaufnahme der Bauarbeiten im großen Stil, und der gedemütigte und ruinierte Papst Clemens VII. vermochte sich zu keinen großen Entscheidungen mehr aufzuraffen. Antonio war es recht, er verdiente viel Geld mit anderen Projekten – hier ein Palazzo, da eine Kirche – und konnte in Ruhe am Konzept für den Petersdom arbeiten. Eines schwor er sich: Niemals würde er so leichtsinnig vorgehen wie Bramante. Er wollte detaillierte Pläne und ein exaktes Holzmodell erarbeiten, damit der Fortgang der Bauarbeiten eindeutig festgelegt wurde. Und während er daran arbeitete, wuchsen in seinem Herzen die Vorwürfe, die er seinem einstigen Lehrmeister machte, in dem er immer mehr den Schuldigen für die Misere ausmachte. Mit einer ordentlichen Planung stünde Neu Sankt Peter bereits, dachte er. Auch als endlich wieder Geld floss, baute Antonio nicht weiter. Die üblichen Verlegenheitsarbeiten – dort ein Fundament ausbessern, da eine Wand hochziehen – verschleierten die Wahrheit. Es ging nicht voran, und das hatte einen Grund.
Antonio wagte sich nicht an die Kuppel. Er mochte sich noch so sehr schinden, die Berechnung gelang ihm einfach nicht. Und das alte Konzept, an dem er sogar mitgearbeitet hatte, zweifelte er inzwischen an. Seine tiefe Skepsis entsprang nur einem einzigen Grund, den er sich aber nicht einzugestehen wagte – es mangelte ihm an Mut. Wenn er die Kuppel setzen würde und sie zerbräche oder die Pfeiler hielten ihrem Gewicht nicht stand, würde sie ihn und seine Familie unter sich begraben. Davor hatte er Angst. Und darüber musste er sich hinwegtäuschen.
Der Tod von Baldassare Peruzzi ließ ihn als Architekt vollends vereinsamen. Hatte sich Baldassare auch vorher nicht viel um den Bau gekümmert, so fehlte er ihm dennoch. Der Papst sah keinerlei Notwendigkeit, einen zweiten Architekten zu beauftragen. Und Antonio selbst konnte ja schlecht darum bitten. Es hätte wie ein Eingeständnis ausgesehen, dass er überfordert sei. Von Jahr zu Jahr mehr empfand er das Projekt als ein abgrundtiefes schwarzes Loch, das ihn zu verschlingen drohte oder als eine große Eisenkugel am Bein, die ihn langsam und unerbittlich auf den Grund des Tibers zog, während er nach Luft schnappend und mit den Händen rudernd versuchte, sich an der Wasseroberfläche zu halten.
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