Diese fremden Menschen stahlen sein Leben. Niemand schützte ihn. Niemand würde es ihm zurückgeben. Der Knabe irrte durch die Straßen, bis er, wie, vermochte er nicht zu sagen, wieder auf dem Platz vor dem Bischofspalast anlangte. Die Wachen, die jene noch glimmenden Scheiterhaufen bewachten, waren längst abgezogen. Er näherte sich den schmutzig grauschwarzen Haufen aus Ruß und Asche. Eine jähe Sehnsucht nach seinen Eltern erfasste ihn. Er wollte nicht glauben, dass seine schöne Mutter und sein starker, kluger Vater sich in eines dieser unansehnlichen Häufchen verwandelt hatten.
Da nahm er plötzlich im Sternenlicht ein Funkeln wahr. Auf Zehenspitzen, um auf nichts zu treten, was einmal Mensch war, balancierte er dorthin und bückte sich. Aus Asche und Steinen fischte er vorsichtig mit den Fingerspitzen einen goldenen Ring mit einem ebenfalls goldenen Aufsatz, den ein schwarzer Stein abschloss. Er wagte es kaum, aber er musste Gewissheit gewinnen, so schrecklich sie auch sein mochte, und hob den Ring gegen das Licht. Das Monogramm seines Vaters, das verriet, dass er ein Levit war, ein Priester, leuchtete dunkel auf. Tränen traten ihm in die Augen, begleitet von einem so heftigen Schluchzen, dass er daran zu ersticken drohte. Den Ring steckte er in seine Hosentasche, dann bückte er sich erneut und streichelte die Asche und die Knochen. Lange tat er das, bis zum Morgengrauen. Dann vertrieb ihn eine Patrouille der Soldaten des Bischofs. Tagelang irrte er durch die Stadt, schlief, wo es sich traf, aß, was er fand. Der Knabe hatte jegliches Gefühl für die Zeit verloren. In ihm kämpften heftig der Schmerz um den Verlust und die Erkenntnis, dass seine geliebten Eltern Ketzer gewesen waren. Aus dem Labyrinth der Wahrheiten und der Pein fand er keinen Ausweg. Gott, der Instinkt oder der Überlebenswille trieb ihn auf ein Schiff, denn in Tortosa würde er am Schmerz ersticken.
Später begriff er, dass er seine Eltern verraten und getötet hatte. Doch auch sie hatten ihn im Stich gelassen, weil sie verstockte Ketzer geblieben waren, statt sich für Gottes Botschaft zu öffnen.
Plötzlich sah Giacomo Licht, und das Licht fiel auf die Ruine der alten Basilika, die er vor sich sah. Dann wurde es erneut dunkel, und er entdeckte wieder seine Eltern. Diesmal aber war er noch sehr klein. Er lernte gerade laufen, indem er zwischen den geöffneten Armen von Mutter und Vater hin- und herstolperte. Sie fingen ihn immer wieder rechtzeitig auf, sodass er nicht hinstürzte. Er fühlte sich sicher, sicher in ihren starken Armen, die ihn hielten, so wie die vier mächtigen Arme der Vierung eines Tages den Himmel tragen würden.
Ohrenbetäubend leise, während er ganz in die Arme seiner Mutter zurückfand, begann er zu singen: » Jitgadal vejitkadasch sch’mei rabah. B’allma di v’ra chir’usei v’jamlich malchusei, b’chjeichon, uv’jomeichon ,uv’chjei dechol beit Jisroel, ba’agal u’vizman kariv, v’imru: Amein. Sein großer Name sei gepriesen in Ewigkeit und Ewigkeit der Ewigkeiten. Gepriesen und gerühmt, verherrlicht, erhoben, erhöht, gefeiert, hocherhoben und gepriesen sei der Name des Heiligen, gelobt sei er, hoch über jedem Lob und Gesang, Verherrlichung und Trostverheißung, die je in der Welt gesprochen wurde, sprechet Amein.«
Aus den Tiefen seines Geistes, der sich von seinem Körper löste, kamen ihm die hebräischen Worte des Kaddisch als die einzigen Worte, die er noch zu sprechen vermochte, als räumten das Spanische, Italienische und das Latein dem Hebräischen den einzig legitimen Platz. Was machte es schon, dass er dieses Gebet nur in Gegenwart eines Minjan, von zehn jüdischen Männern, verrichten durfte? Waren sie denn nicht alle da: sein herrlicher Vater, seine beiden würdevollen Großväter, seine vier Onkel, der kluge Rabbiner, der lustige Bäcker, der strenge Koschermetzger? Reichten sie ihm nicht hilfsbereit die Hand, wo er sich gerade von seinem Körper und seiner irdischen Last befreite? Nahmen sie ihn trotz seines Verrates auf im himmlischen Jeruschalaijm? Sprecht Amein.
53

Rom, Anno Domini 1527
Um ihn herum wurde geplündert. Landsknechte drangen in die Kirchen, Paläste und Wohnhäuser ein und raubten, was sie an Edelsteinen, Gold und Silber fanden. Ascanio ließ seinen beiden Freunden freie Hand. Er verstand sie ja nur zu gut. Und eigentlich sollte er handeln wie sie. Schließlich müsste auch er für das Alter zusammenraffen, was sich ihm bot. Im Elend würde er verrecken, ohne dass sich jemand um ihn kümmern würde, wenn er zu alt war fürs Kämpfen oder in einem Gefecht zum Krüppel geschlagen wäre. Es sei denn, er hätte den Notgroschen zusammengeraubt.
Die Gelegenheit, die reichste Stadt der Welt auszurauben, würde sich ihm nie wieder bieten. Doch auf dem Petersplatz überfielen ihn sogleich Erinnerungen, die ihn lähmten. Vor fast zwanzig Jahren war er mit Bramante in die Krypta der Basilika gegangen und hatte das gefesselte Mädchen gesehen und sich mit verhaltenem Zorn den Forderungen des katalanischen Kardinals gebeugt. Der Anblick der gefesselten Unschuld hatte ihm fast das Herz zerrissen. Je mehr er von der Gewalt sah, umso stärker stieß sie ihn ab.
Bedächtig ging er die Stufen zur Kirche hinauf. Er stieg über geschändete Menschenleiber, die meisten Kleriker und Bedienstete, aber Frauen und Kinder. Manche offensichtlich vergewaltigt. Er kannte den Blutwahn nur zu gut, der sich einstellte, wenn man über Stunden gemordet, sein Leben verteidigt und dabei die Kameraden fallen gesehen hatte. Alle Reflexe des Menschen gehorchten nur einer einfachen Rechnung: töten oder getötet werden. Wer so weit war, konnte nicht mehr aufhören, bevor er vor Erschöpfung zusammenbrach. Er bekam nicht genug vom Blut, das er vergoss, nicht genug von den Schreien, die er hörte, weil er sie verursachte. Weil Ascanio diesen Rausch kannte, wusste er, wie er ihm entkommen konnte.
Nun trat er durch die Pforte in das Atrium. Die grüne Wiese war rot. Insekten hielten einen Festschmaus. Keinen der Toten sah er an, er wusste nur zu gut, dass er das Leid weit von sich halten musste. Wenn die Opfer Persönlichkeit bekamen, würde er wahnsinnig werden. Sie mussten unter allen Umständen abstrakt bleiben. Plötzlich fesselte ihn eine Beobachtung. Aus der Porta Ravenniana floh eine halb nackte Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm. Ein Landsknecht mit vor Gier aus den Höhlen quellenden, wässrigen Augen folgte ihr und rief: »Ich will nichts von dir, aber gib mir das Balg!«
Ascanio hatte sich in den vielen Jahren, in denen er schon das Geschäft des Krieges betrieb, angewöhnt, sich niemals einzumischen. Und das hatte sich als weise und klug erwiesen. Man musste nicht zum Vieh werden wie die Kameraden, aber man durfte ihnen im Augenblicke des Blutrausches auch nicht in den Arm fallen. Ihre sexuellen Triebe, die befriedigt sein wollten, waren nur eine andere Form des Blutrausches, des Mordtriebes.
»Ist doch ein Junge! Lass dich auch am Leben«, rief der Landsknecht. In den Augen der Frau sah Ascanio die Angst um ihr Kind. Und niemand war da, der ihr beistand, ihr Mann war wahrscheinlich schon in der ersten Kirche der Christenheit niedergemetzelt worden. Nicht bittend sah sie ihn an, sondern mit dem vernichtenden Ausdruck der Hoffnungslosigkeit. In diesem Moment fröstelte er bis in die Eingeweide. Er zog sein Messer und stellte sich dem Söldner in den Weg. Der zuckte zurück.
»Was willst du? Was geht dich das Balg an?«
»Bist du an Bälgern interessiert?«, fragte ihn Ascanio kalt.
»Nur! Probier es. Es gibt nichts Schöneres. Es ist alles noch so unschuldig und so frisch. Und das Beste ist, du holst dir nicht mal die Franzosenkrankheit!«
Ascanios Augen verengten sich. Seltsam ruhig wurde er, bevor seine Faust im Gesicht dieses Kinderschänders landete, der zu Boden ging. Mit schnellen Griffen hatte er ihm den Brustharnisch gelöst und zur Seite geworfen. Dann kniete er auf den Beinen des Kerls. Dieser kam wieder zu sich und versuchte sich zu wehren. Mit zwei kurzen Schnitten seines Dolches durchtrennte Ascanio ihm die Sehnen an den Oberarmen, sodass der Landsknecht seine Arme nicht mehr benutzen konnte. Sie baumelten an seinem Körper wie bei einer Marionette, bei der man die Drähte gekappt hatte. Er schrie vor Schmerzen wie ein Schwein, die Augen vor Angst weit aufgerissen. Aber das erreichte Ascanio nicht mehr. Mit einem tiefen Schnitt hatte er die Bauchdecke geöffnet und zog die Därme heraus. Söldner, die aus der Kirche kamen, blieben verwirrt stehen. Er blickte kurz hoch, und als sie das Tier in seinen Augen erkannten, gingen sie rasch weiter, ohne sich einzumischen. Nachdem er den widerlichen Kerl ausgeweidet hatte, erhob er sich und merkte, dass Eugenio und Baccio neben ihm standen. Meine guten Freunde, dachte er wie benommen, gute Männer.
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