Ja, erkannte Hasdrubal, ich muß mich zum Kampf stellen. Vielleicht zieht der Schlachtenlärm meinen Bruder Hannibal herbei! Gut möglich, daß er schon unterwegs ist und seine Truppen in höchster Eile antreibt! Er ließ Alarm blasen.
Sonst pflegten seine Söldner beim ersten Ton der Trompete auf die Beine zu springen. Doch diesmal erhoben sie sich nur widerstrebend von der Erde, die ihnen nach den Anstrengungen des Alpenüberganges ein hartes Ruhelager gewesen war, trotteten langsam zu ihren Einheiten und reihten sich ein, das Gesicht zur Straße gewendet.
Die Flaminische Straße! ging es Hasdrubal durch den Kopf. Sie trägt den Namen des Mannes, den mein Bruder im zweiten Kriegssommer besiegte. Häufig sprach er von Flaminius, der ganz Norditalien bis hin zu den Alpen für Rom eroberte, und meinte, daß Rom fallen würde, sobald er Flaminius besiegt hätte. Flaminius wurde besiegt, doch Rom wurde dadurch nicht erschüttert. Zehntausende von Römern fielen in den Schlachten am Trasimenischen See und bei Cannae, doch neue Römer nahmen ihre Plätze ein. Ob wir etwa nicht gegen sterbliche Menschen kämpfen, sondern gegen unsterbliche Geister, die immer wieder auferstehen? Und jetzt liegt diese schnurgerade Straße vor uns wie eine unüberschreitbare Trennlinie, die der Geist des Flaminius vor uns aufgerichtet hat, um sich zu rächen. Die rechte Flanke des Heeres stieß an einen Hügel, der früher ein Weinberg gewesen sein mußte, denn die Stützen für die Weinreben waren noch vorhanden.
Jetzt müßte ich die Reiterei hier haben! dachte Hasdrubal. Ich hätte sie hinter diesem Hügel postieren und im erforderlichen Augenblick in die Schlacht werfen können!
Aber die Reiterei war in Karthago, Masinissa hatte sich geweigert, Hasdrubal nach Italien zu begleiten, als er von Hannos Betrug erfuhr, und so war Hasdrubal nichts anderes übriggeblieben, als ihn mit seinen Reitern nach Afrika zurückkehren zu lassen. Vielleicht konnte er auch dort von Nutzen sein.
Die Treiber lenkten die Elefanten heran. „Wann wirst du mir Elefanten schicken?" „Was ist mit meinen Elefanten?" hatte Hannibal in jedem Brief gefragt. Mit fünfzig Elefanten war Hasdrubal in Iberien aufgebrochen, und vierzig waren nach dem Übergang über die Alpen noch am Leben.
Langsam stampften die Elefanten durch den Gang, den die gallischen und iberischen Kolonnen für sie gebildet hatten. Ihre schweren Schritte dröhnten wie Grabesgeläut. Ihre bunten Satteldecken waren verblichen, den Kopf hielten sie trübselig gesenkt. Sie schienen zu spüren, wie diese Schlacht auslaufen würde.
Schon seit zwei Monaten hielt sich Hannibal in einem befestigten Lager bei Canusium auf. Längst waren die umliegenden Dörfer kahlgegessen, bald würden seine Krieger hungern müssen. Es war an der Zeit, andere, noch nicht verödete Provinzen Italiens aufzusuchen, aber Hannibal zögerte. Worauf wartete er? Daß die Römer sich ihm zur Schlacht stellten? Seit einigen Wochen verließen sie kaum mehr ihr Lager. Er hörte sie nur lärmen und sah nachts den Widerschein von ihren zahlreichen Lagerfeuern am Himmel stehen.
Wovon ernähren sich die zehntausend Legionäre, die sich im Lager befinden müssen? grübelte Hannibal. Was führen sie im Schilde?
Er ließ Dukarion rufen. Dukarion war als Gallier und ehemaliger römischer Sklave besonders gut geeignet, um sich zum römischen Lager zu schleichen und herauszufinden, was dort vor sich ging.
In der folgenden Nacht kroch Dukarion unbemerkt dicht ans römische Lager heran. Mit ausgestreckter Hand hätte er den grasbedeckten Lagerwall berühren können. Alles war still. So qualvoll langsam verstrich ihm die Zeit, als würde sie von den Göttern in ihrem Lauf gehemmt, um seine Geduld auf die Probe zu stellen. Schließlich hörte er Schritte und Stimmen über sich. Die Posten! dachte er und preßte sich fester an die Erde. Trockene Gräser kitzelten ihm das Gesicht. Sie dufteten nach Wermut. Er hielt den Atem an, um die Unterhaltung der Römer zu verstehen. Vielleicht konnte er daraus entnehmen, wann Postenwechsel war.
„Zeit zur Weinlese!" sagte der erste Posten. „Siehst du den Stern dort oben? Den nennen wir den Weinbecher. Wenn er am Himmel steht, ist es Zeit, Körbe und Fässer bereitzustellen. In unserer Gegend pflanzt man die Reben neben Bäumen, damit sich die Schößlinge daran hochranken können!"
„Bei uns wächst kein Wein", antwortete eine hellere Stimme, die anscheinend einem jungen Mann gehörte. „Dazu ist der Boden zu fett. Wir züchten Kohl. Unsere Kohlköpfe sind größer als Männerschädel. Zu dieser Jahreszeit bringen wir sie immer nach Rom auf den Markt!"
Das war kein Wortwechsel zwischen grimmigen römischen Legionären, sondern die friedliche Unterhaltung zweier Männer, die man von ihrer Familie und ihrer gewohnten Arbeit in Weinbergen und Gemüsefeldern weggeholt hatte. Zum erstenmal seit vielen Jahren spürte Dukarion die ganze Sinnlosigkeit seines Söldnerdaseins. War er denn als Krieger geboren? Ohne den Überfall der Römer würde er noch immer am Ufer der Adda die Pferde hüten. Wie hatten ihre Rücken und ihre Flanken im Mondlicht geglänzt! Wie vertraut waren die Geräusche jener Nächte gewesen - das leise Wellengeplätscher, das knisternde Lagerfeuer! Damals wäre ihm nie der Gedanke gekommen, daß er eines Nachts auf den Befehl eines fremden Mannes über einen verunkrauteten Acker kriechen würde, um Bauern und Winzer gefangenzunehmen und zu töten oder um von ihnen getötet zu werden!
Dennoch habe ich keine andere Möglichkeit! grübelte Dukarion. Ich bin an Hannibal geschmiedet wie ein Rudersklave an die Ruderbank. Und selbst wenn ich die Ketten zerreiße, bin ich noch immer vom feindlichen Meer, von mörderischen Wasserfluten umgeben. Ich kann nicht nach Gallien fliehen, denn alle nach Norden führenden Straßen werden von den Römern bewacht. Und wenn ich mich ihnen ergeben würde, hätte ich nur die Sklaverei zu erwarten, und das wäre schlimmer als der Tod.
Plötzlich hörte er fernen Marschtritt und Stimmenlärm. Offenbar rückte ein römischer Truppenteil durch das jenseitige Tor ins Lager ein.
Die Römer bereiten sich auf eine Schlacht vor! Das ist vermutlich eine frische Einheit! sagte sich Dukarion.
„Endlich sind sie wieder da!" rief über ihm der ältere Posten.
„Schau, sie haben Elefanten mitgebracht!" ergänzte der jüngere. „Wo mag der Konsul die erobert haben?"
Langsam, dicht an den Boden geduckt, kroch Dukarion davon. Erst als er ein kleines Waldstück erreicht hatte, richtete er sich auf und rannte zum karthagischen Lager zurück, so schnell ihn seine Füße tragen wollten.
Auf diese Weise erfuhr Hannibal, daß die Konsuln vor einiger Zeit mit dem größten Teil ihrer Heere das Lager verlassen hatten und nun wieder zurückgekehrt waren. Doch wo hatten sie sich inzwischen aufgehalten? Und woher stammten die Elefanten?
Hannibal ahnte Schlimmes.
Am nächsten Morgen brachte man ihm einen Ledersack, den die Posten am Lagerwall gefunden hatten.
„Aufmachen!" befahl Hannibal kurz.
Der Posten gehorchte. Ein blutiger Kopf fiel ins Gras.
„Wollen mich die Römer verhöhnen?" fragte Hannibal verächtlich. Doch dann sah er genauer hin und sank auf die Knie.
„Bruder", flüsterte er, „so sehen wir uns wieder."
Mit unwirklicher Deutlichkeit stieg in seiner Erinnerung das Kinderspiel auf, und seine eigene triumphierende Stimme klang ihm in den Ohren: Die Römer haben gesiegt.
Nachdem Hannibal den Kopf des Bruders begraben hatte, führte er sein Heer zur Südspitze Italiens.
Auf einem Felsen, dicht am Meer, leuchtete der weiße Marmortempel der Göttin Hera. Schlanke Zypressen wiesen den Schiffern den Weg zum Heiligtum. Hier herrschte auch im Hochsommer Kühle, denn die heiße Julisonne war nicht imstande, die gewaltigen Steinquadern zu durchdringen, die den Tempel in eine Festung verwandelt hatten. Am Fuße des Felsens weideten Tarentiner Schafe, deren Wolle so kostbar war, daß man ihnen die Felle gewöhnlicher Schafe über den Rücken deckte. Sie hatten früher den Priestern gehört und waren jetzt Eigentum der Armee geworden, wie alles ringsumher.
Читать дальше