Zwischen zwei Olivenhainen lag das karthagische Lager. Bei Sturm spritzten die Wogen bis zu den Zelten hin und füllten sie und den Tempel mit ihrem Brausen. Von seinen Stufen hatte man einen weiten Blick auf das Meer.
Aber all das vermochte den Feldherrn nicht von seinen qualvollen Grübeleien abzulenken. Er, für den nur der Kampf Leben bedeutete, war zur Untätigkeit verurteilt. Er konnte nur noch auf Nachrichten warten von dort, wohin sich der Krieg verlagert hatte. Freund und Feind schienen ihn vergessen zu haben. Die Proviantschiffe, die man ihm aus Karthago geschickt hatte, waren an der sardinischen Küste im Sturm untergegangen. Italien, das ihn geduldet hatte, solange er siegte, behandelte ihn jetzt mit wortloser Feindseligkeit. Bei seinem Herannahen schlossen die Städte ihre Tore, verödeten die Dörfer. Ihre Einwohner verbrannten die Saaten, nahmen ihr Vieh und flohen.
Und sein Heer? Es bestand zur Hälfte aus Italikern, denen er versprochen hatte, sie gegen Rom zu führen. Würden sie ihm folgen, wenn er sie statt dessen nach Afrika brächte? Nein, sie würden Italien nicht verlassen. Sie wollten nur hier kämpfen, weil sie nur hier ihre Befreiung vom römischen Joch erlangen konnten.
Immer häufiger beschäftigte sich Hannibal in Gedanken mit Publius Scipio. Es schien ihm, daß sich in den Worten und Taten dieses Römers die Lösung für die Rätsel des Krieges verbarg. Allein die Tatsache, daß der junge Scipio während Hannibals Aufenthalt in Italien vom Knaben zum Manne herangewachsen und Konsul geworden war, bedrückte Hannibal tief. In blutigen Schlachten vernichtete ich eine ganze Generation von römischen Kriegern, aber ihre Söhne sind nachgerückt, und schon wachsen ihre Enkel heran! Und wo bleibt unser Nachwuchs? Ich und meine Veteranen, wir sind wie Dornen, die der afrikanische Wüstenwind auf die italische Erde herüberwehte. Wir haben keine Wurzeln, keine Zukunft. Iberien, das Land, das mein Vater und mein Vetter Hasdrubal eroberten, ging uns nahezu vollständig verloren. Ich hatte erwartet, daß Publius Scipio nach seinen iberischen Siegen in Italien landen würde, um mir hier die Entscheidungsschlacht zu liefern. Aber er hat sich nach Sizilien begeben. Das ist eine Demütigung für mich als Mensch und Feldherr. Bin ich der Aufmerksamkeit eines Scipio nicht mehr würdig?
Hannibal schoß das Blut ins Gesicht. Er rief sich seine Siege am Trasimenischen See, an der Trebia und bei Cannae ins Gedächtnis, doch auch sie trösteten ihn über die schmachvolle Kränkung nicht hinweg. Ja, Scipio hat recht! Ich bin nicht mehr gefährlich, deshalb kehrt er mir den Rücken.
Hinter dem Kap tauchte ein Schiff mit steilem Segel und zwei Reihen von Rudern auf. Es war, wie Hannibal erkannte, eines jener Wachschiffe, die zum Schutz der afrikanischen und iberischen Küste eingesetzt, aber wegen ihrer Schnelligkeit auch für längere Fahrten benutzt wurden. Welche Nachricht würde es ihm bringen?
Als das Schiff am Ufer angelangt war, ankerte es und ließ ein Boot zu Wasser. Es wurde von zwei Männern gerudert. Ein dritter breitschultriger Krieger stand aufrecht am Bug.
Hannibal hastete zum Ufer hinunter. Der Mann am Bug war Magon. Besorgniserregende Ereignisse mußten ihn veranlaßt haben, Karthago zu verlassen, wo er Elefanten und Truppen besorgen sollte. Wortlos schloß er Hannibal in die Arme.
„Ein Unglück ist geschehen!" sagte er dann leise. „Gula ist tot, und Masinissa ist von uns abgefallen. Er hat Syphax den Krieg erklärt und den karthagischen Ratsherrn ermordet, der als Friedensunterhändler zu ihm kam. In seinem Lager wurden Abgesandte des Publius Scipio gesehen."
Hannibal senkte den Kopf. Schon lange wußte er, daß sich Karthago durch sein Schwanken zwischen Syphax und Gula in eine große Gefahr begeben hatte. Hanno hatte versucht, beide Numidier-Könige zu Karthagos Bundesgenossen zu machen und geglaubt, daß Gula die Verheiratung Sophonisbes mit Syphax nicht übelnehmen würde. Er war doch stets dagegen gewesen, daß sein Sohn dieses Mädchen zur Frau nahm. Aber nun war Gula tot.
Schon vor zwanzig Jahren hatte mein Vater mit diesem Tod gerechnet und deshalb versucht, Masinissa an uns zu binden, dachte Hannibal. Doch Hanno machte all unsere Bemühungen zunichte. Er versprach Masinissa die Tochter unter der Bedingung, daß dieser Kriegsruhm erwürbe, in Wirklichkeit aber nur, um den jungen Numidier aus Karthago zu entfernen. Vermutlich nahm er an, daß Masinissa bei den Kämpfen in Iberien ums Leben kommen würde. Doch Hanno hat sich getäuscht, Masinissa ist nach Afrika zurückgekehrt, hat den väterlichen Thron mit Waffengewalt erobert und uns den Krieg erklärt. Publius Scipio erhielt einen mächtigen Verbündeten.
Hannibal blickte seinem Bruder eindringlich in die Augen.
„Jetzt sind wir nur noch zwei", sagte er dumpf. „Wie sehr wünschte ich, daß du für immer bei mir bleiben könntest. Aber es ist unmöglich, diesen Auftrag einem anderen zu geben."
„Ich höre, Hannibal", sagte Magon kurz.
Das war die übliche Antwort des Kriegers auf einen Befehl seines Vorgesetzten. Aber aus der bewußten Knappheit, aus der Festigkeit der Stimme klang Magons Wunsch, den Bruder zu beruhigen und ihm zu beweisen, daß sein Glaube an den Sieg auch in diesen schweren Tagen unerschütterlich war.
„Du mußt nach Norditalien", sagte Hannibal. „Ich gebe dir Dukarion und alle Gallier mit. Jetzt kann uns nur noch ein Aufstand gegen Rom im Norden des Landes retten. Du erhältst auch alle Schiffe."
„Und du?" Fragend sah Magon den Bruder an. „Was willst du ohne Schiffe anfangen, wenn die Römer kommen? Außerdem kann ich dir doch nicht alle Gallier nehmen! Aus Afrika erhältst du keinen einzigen Krieger!"
„Die Römer kommen nicht. Sie haben noch immer Angst vor dem Schatten jenes Hannibal, der am Trasimenischen See und bei Cannae siegte. Nur Publius Scipio würde sich mir zur Schlacht stellen. Doch jetzt, da uns Masinissa verraten hat, wird er sich unverzüglich nach Afrika einschiffen. Ich könnte bei Melkart schwören, daß er schon unterwegs ist!"
Publius Scipio ging zwischen den marmornen Zuschauerbänken hindurch. In wenigen Augenblicken würde eine Aufführung der „Antigone" beginnen, und viele Einwohner der sizilianischen Stadt Lilybaeum waren herbeigeströmt, um dieses berühmte Theaterstück des griechischen Tragödiendichters Sophokles zu sehen. Antigone war der Sage nach eine der beiden Töchter des unglücklichen Königs Ödipus, der durch die tragischen Verstrickungen des Schicksals unwissentlich seinen Vater tötete und später ebenso unwissentlich seine eigene Mutter heiratete. Als er dann von seinen eigenen Freveltaten Kenntnis erlangte, stach er sich selber die Augen aus und verließ sein Land. Von Mitleid erfüllt, begleitete Antigone ihren unglücklichen Vater in die Fremde, teilte mit ihm alle Mühsal und Not der Verbannung und kehrte erst nach seinem Tode in die Heimat zurück. Aber auch hier fand die gütige Jungfrau keinen Frieden. Sie mußte mit ansehen, daß sich ihre beiden Brüder im Kampf um die Herrschaft gegenseitig ermordeten und daß ihr Oheim den Leichnam des einen, der Polyneikes hieß, unbestattet auf dem Felde liegenließ, den Raubvögeln und Hunden zum Fraße, zur Strafe dafür, daß er fremdes Kriegsvolk ins Land geführt und seine Vaterstadt bedroht hatte. Kreon, der Oheim von Antigone, verbot bei Todesstrafe, Polyneikes zu begraben, aber Antigone mißachtete das Verbot, ging hin, bedeckte seine Leiche mit trockener Erde und goß aus einem Kruge die Totenspende über ihn aus, wie es die alte Sitte forderte. Das erfuhr Kreon, und der Grausame ließ sie zur Strafe lebendig in ein unterirdisches Gewölbe einmauern, wo sie den Tod fand.
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