In den letzten Jahren hatte Hanno im Schatten gestanden. Man erwähnte ihn nur in Verbindung mit seiner hartnäckigen Feindschaft gegen Hannibal und hörte ihn im Großen Rat nur aus Höflichkeit an. Alle seine Anhänger waren von ihm abgefallen, weil Hannibal sie mit Silber bestochen oder durch seine glänzenden Siege beeindruckt hatte. Doch nun wurde Hannos Name wieder mit Achtung genannt. Man erinnerte sich, daß er zu einer Zeit, da fast ganz Karthago Hannibals ehrgeizige Pläne unterstützte, als einziger einen kühlen Kopf bewahrt und seine Landsleute zur Freundschaft mit Rom aufgefordert hatte. Er war auch der einzige gewesen, der verlangt hatte, den unmündigen Hannibal in Karthago zu behalten und zu verhindern, daß er zu einem Krieger erzogen wurde, und ihn später, nach der Einnahme Sagunts, den Römern auszuliefern. Hätten die Karthager damals auf seinen Rat gehört, dann würde sich in den vergangenen Jahren ihr Besitz vermehrt haben, dann hätten sie ihren Staatsschatz nicht für Elefanten und Söldner ausgeben müssen, dann besäßen sie noch ihre überseeischen Besitzungen und brauchten nun nicht von Stunde zu Stunde auf einen Angriff der Römer gefaßt zu sein. Denn wozu waren Karthago eigentlich die Elefanten und gewaltigen Landheere vonnöten? Hatte das Meer ihm nicht immer Reichtum und Ruhm gegeben? Nein, das Meer hatte nicht die Karthager verraten, wie Dummköpfe behaupteten, es war vielmehr von ihnen verraten worden und hatte sich nun an ihnen gerächt, indem es vor den römischen Truppen zurückwich, so daß diese in der Lage gewesen waren, Neu-Karthago von der Seeseite aus zu Fuß zu erreichen. Zumal die beiden karthagischen Städte keine Kriegsflotte besaßen, die den feindlichen Überfall hätte vereiteln können.
„Baut Schiffe!" hatte Hanno seit jeher verlangt, und diese Forderung wurde nun von allen Karthagern unterstützt. Am Schiffbau würden nicht nur die reichen Holzhändler verdienen, sondern auch die karthagischen Handwerker.
„Doch wenn es Publius Scipio nun gelingt, die karthagischen Wachposten zu täuschen und unbemerkt in Afrika zu landen?" fragte das Volk.
Auch darauf wußte Hanno eine Antwort: „Dann werden unsere Reitereinheiten ihn ins Meer werfen!"
Und er besorgte den Karthagern noch einmal eine numidische Reitereinheit.
Viele Leute, die seine Weitsicht jetzt richtig zu erkennen glaubten, vertraten die Meinung, daß er Karthagos jetzige Zwangslage und die Notwendigkeit eines Bündnisses mit Syphax vorausgesehen und deshalb seine schöne Tochter, die inzwischen dreißig Jahre alt geworden war, noch nicht verheiratet hatte.
Allerdings gingen auch andere Gerüchte um, wonach sich Sophonisbe bisher gegen eine Heirat gewehrt hätte. Aber wer mochte glauben, daß ein Mann, der nun das ganze karthagische Volk hinter sich hatte, mit seiner einzigen Tochter nicht fertigwerden konnte! Außerdem gab es wohl kein Mädchen, das freiwillig auf die Ehe verzichtet und es vorgezogen hätte, eine alte Jungfer zu werden!
Der Hochzeitstag rückte näher. Alle Karthager warteten in freudiger Ungeduld auf Syphax und sein aus fünfhundert Reitern bestehendes Gefolge sowie auf die kostenlose Bewirtung, die Hanno ihnen versprochen hatte.
Und nur die Braut sah dem Hochzeitstag wie einem unabwendbaren Unglück entgegen. Hanno hatte ihr vorgelogen, daß Masinissa in Iberien den Tod gefunden hätte, um ihre Einwilligung zur Heirat mit Syphax zu erhalten. Aber diese Lüge war eine zu starke Arznei gewesen, schlimmer als die Krankheit selbst. Sophonisbe weinte von früh bis spät.
„Schluß mit den Tränen!" herrschte Hanno sie wütend an. „Ich will nicht, daß die Stadt dich als weinende Braut sieht! Ja, ich hatte dir versprochen, daß du keinen Barbaren heiraten brauchst. Aber die Götter fügten es anders. Überdies ist Syphax König und unser Freund. Deinetwegen hat er auf das Bündnis mit Rom verzichtet. Dein Masinissa war doch auch ein Barbar, und wenn er noch lebte..." „Nenne diesen Namen nicht!" Sophonisbes Augen funkelten vor Zorn. „Genügt es dir nicht, daß ich mich deinem Willen füge? Was willst du mehr? Mir das einzige nehmen, was mir geblieben ist - meine Trauer, meine Erinnerungen? Ich habe Masinissa geliebt. Und wäre er nur ein armer Hirt gewesen, ich hätte ihn nicht gegen alle Könige der Welt mitsamt ihren Schätzen eingetauscht."
Sie schlug die Hände vors Gesicht. Weit hinter den Stadtmauern Karthagos lag eine sonnenüberflutete wundersame Welt. Von dort war Ma-sinissa gekommen, um sie mit sich zu nehmen. Doch ihr Vater hatte sie ihm verweigert und sie wie eine Gefangene in seinem Palast eingeschlossen. Warum? Um sie in seinem Spiel als Köder zu benutzen?
„Sophonisbe, du weißt etwas Wichtiges noch nicht!" Hanno setzte sich neben sie. „Die Römer haben Neu-Karthago erobert! Hier in Karthago gibt es kein Heer. Ohne Syphax' Hilfe könnte sich Karthago keine Stunde halten. Und wenn es den römischen Legionären in die Hände fiele, würden sie uns Männer in die Sklaverei verschleppen, unsere Frauen und Töchter mißbrauchen und unsere Tempel schänden. Du mußt Masinissa vergessen. Niemand darf wissen, daß dir diese Hochzeit zuwider ist."
Sophonisbe senkte den Kopf. Sie hatte keine Kraft mehr, sich dem beharrlichen Drängen des Vaters zu widersetzen. Sollte er seinen Willen haben. Aber ihr Herz würde ihm und ihrem künftigen Gemahl für immer verschlossen bleiben!
Von den fernen schneebedeckten Gipfeln der Pyrenäen blies der Nordwind. Unter seinem eisigen Hauch duckten sich die Eichen. Ihre vergilbten Blätter wirbelten durch die Luft, und die Eicheln prasselten zu Boden. Hufschlag näherte sich. Ein Reiter galoppierte auf seinem Schimmel so eilig vorüber, als hinge von der Schnelligkeit des Galopps sein Leben ab.
Es war Masinissa, und er war auf dem Weg nach Karthago, denn erst heute hatte er die Wahrheit erfahren, obgleich Magon und Hasdrubal sie schon lange kannten: Hanno hatte seine Tochter mit Syphax verheiratet.
Als Publius Scipio Neu-Karthago eroberte, befand sich Kylon auf der Reise nach Rom. Publius hatte ihn großzügig entlohnt und ihm eine Anweisung auf fünftausend Sesterzen an den neapolitanischen Geldwechsler Skintius übergeben. Kylon kannte Skintius' Kneipe genau; sie lag am Marktplatz.
Kylon malte sich schon aus, wie Skintius ihn ins Hinterzimmer der Kneipe führen und die Geldanweisung mit dem Abdruck des Siegelringes von Publius Scipio von allen Seiten prüfen würde. Schließlich erhielt er nicht alle Tage eine Anweisung auf eine so hohe Summe. Und während Skintius das Geld hervorholte und abzählte, würde er, Kylon, wortlos und mit würdevollem Gesicht danebensitzen. Ja, er würde schweigen wie ein Toter oder höchstens über Nebensächlichkeiten reden, über das Wetter zum Beispiel. „Was ist mit dir los, Kylon?" würde Skintius verwundert fragen. „Beim letztenmal, als ich dir die zweihundert Sesterzen auszahlte, hast du mir deine Abenteuer so haarklein berichtet, daß ich glaubte, selber nach Afrika gesegelt zu sein. Jetzt dagegen bist du dermaßen wortkarg, als hättest du eine Erbschaft gemacht oder wärest in den Senat gewählt worden!" Doch auch darauf würde Kylon nicht antworten, trotz seines Bedürfnisses, dem Geldwechsler von seinem Ölhandel in Neu-Karthago, von seiner wunderbaren Rettung und von der Großzügigkeit des jungen Feldherrn zu erzählen, der ihm das Geld für das verlorengegangene Schiff aus seiner Privatkasse ersetzt hatte. Publius hatte ihn nämlich schwören lassen, keiner Menschenseele zu verraten, daß er in Neu-Karthago gewesen wäre. „Da hast du noch hundert Sesterzen für dein Schweigen!" hatte er gesagt. Dieses Geld klirrte jetzt in Kylons Geldbeutel und erinnerte ihn an seinen Eid. Und wenn er für sein Schweigen jedesmal soviel Geld erhielte, würde er stumm werden wie ein Fisch und sich nur noch durch Zeichen verständigen. Und überhaupt - mit wem sollte ich mich auf See unterhalten? Etwa mit den Rudersklaven, die nur die pfeifende Sprache der Peitsche verstehen?
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