So blieb Hannibal nichts anderes übrig, als die Widerspenstigen durch viele Feldzüge und Belagerungen nacheinander zu zwingen, sich ihm zu unterwerfen. Bei einem dieser Feldzüge, der ihn quer durch Italien führte, machten sich römische Truppen seine Abwesenheit zunutze und begannen mit einer Belagerung von Capua.
Hannibal kam der Stadt sogleich zu Hilfe. Er zwang die Römer, die Belagerung abzubrechen, war jedoch nicht imstande, sich lange in Capua aufzuhalten, weil ihm der Proviant für seine Truppen ausging. Nach seinem Abzug schlossen die Römer erneut einen eisernen Belagerungsring um Capua. Wieder kehrte Hannibal zurück. Diesmal versuchte er, die Römer in einer offenen Feldschlacht zu stellen. Die aber verschanzten sich in ihrem uneinnehmbaren Lager. Die Römer darin zu belagern, war Hannibal nicht imstande, weil sie vorher sämtliche Lebensmittelvorräte und alles Futter für die Pferde in der Umgebung von Capua vernichtet hatten. Deshalb beschloß er, gegen Rom zu ziehen in der Hoffnung, die römische Armee würde die Belagerung Capuas abbrechen, um ihre Vaterstadt zu retten.
In Eilmärschen war er nach Rom gezogen. Nun stand er vor den Toren und betrachtete die Stadt. Sie sah ganz anders aus, als er sie sich vorgestellt hatte. Da er die Ordnungsliebe der Römer und ihre strenge Disziplin kannte, hatte er geglaubt, ein großes Feldlager zu erblicken - schnurgerade Straßen, quadratische Stadtviertel. Doch statt dessen nahm er schmale krumme Gassen wahr, ein- und zweigeschossige Häuser, die inmitten grüner Gärten lagen und mit Brettern oder Ziegeln gedeckt waren. Kein römischer Tempel konnte sich mit den karthagischen Tempeln der Tanit und des Baal-Ammon messen, was Größe und Pracht betraf. Auch mit dem reichen, schönen Capua ließ sich Rom nicht vergleichen. Und diese Stadt hatte er zur Hauptstadt seines Reiches machen wollen?
Ein Melder sprengte herbei.
„Herr!" rief er. „Die Römer geben die Belagerung Capuas nicht auf!"
Hannibal war ungeduldig. Hatte Cannae den Römern nicht bewiesen, daß sie außerstande waren, zu siegen? Jede andere Stadt hätte schon längst die Waffen gestreckt und um Gnade gebeten, doch Rom setzte den Kampf fort, verschanzte sich hinter Mauern, Gräben und Pfahlzäunen und führte von dort aus seine Schläge.
Hannibal stand der Form der Kriegführung, die ihm von Rom aufgezwungen wurde, ohnmächtig gegenüber. Er war an offene Feldschlachten gewohnt, doch Rom zwang ihn zum Warten. Die Zeit war nun sein schlimmster Feind. Sie nahm ihm die Verbündeten, leerte seine Kassen, verdarb seine Krieger.
Zwei Tage später zog Hannibals Heer nach Süden, nachdem es Roms Umgebung geplündert und verheert hatte. Den Römern erschien sein Abzug wie ein Wunder - wie ein Alptraum, den das Morgenlicht verscheucht. Sie verließen die Stadt und wanderten zum zweiten Meilenstein der Appischen Straße, dorthin, wo Hannibal gestanden hatte. Dieser Ort wurde für heilig erklärt, und inmitten der dort befindlichen weißen Marmorgrabsteine wurden Altäre für die Götter errichtet, die Rom beschützt hatten.
Hannibals mißlungener Angriff auf Rom öffnete den römischen Truppen die Tore der wehrlosen Stadt Capua. Roms Rache war fürchterlich. Alle Einwohner der Stadt wurden auf den Stadtplatz geführt, wo sie mit ansehen mußten, wie ihre Senatoren, die man für die Hauptschuldigen am Abfall Capuas von Rom hielt, nacheinander ausgepeitscht und geköpft wurden. Nachdem diese Prozedur zu Ende war und die Liktoren ihre Äxte in die Rutenbündel zurückgeschoben hatten, erhielten die Legionäre den Befehl, sämtliche Capuaner aus ihrer Vaterstadt hinauszuführen und sie in die Sklaverei zu verkaufen.
Da löste sich ein Capuaner mit hartem zerfurchtem Gesicht aus der Menge und ging auf den Konsul zu, der die Legionäre befehligte.
„Ich will dir Gelegenheit geben, dich späterhin rühmen zu können, du habest einen Mann getötet, der tapferer war als du. Die Menschen, die du bisher umgebracht hast, waren waffenlos. Ich aber bin ein Krieger. Töte mich."
„Du bist von Sinnen!" rief der Konsul. „Ich könnte dich wegen deiner Dreistigkeit hinrichten lassen, aber ich schenke dir ebenso wie deinen Landsleuten das Leben."
„Was soll mir noch das Leben", versetzte der Capuaner, „wenn sich meine Vaterstadt in Feindeshand befindet, wenn meine Brüder und Freunde nicht mehr am Leben sind, wenn ich mit eigener Hand Weib und Kinder töten mußte, um sie vor der Sklaverei zu bewahren! Du versagst mir den Tod? Gut, dann gebe ich ihn mir selbst!" Er riß einen Dolch aus der Toga, stieß ihn sich in die Brust und sank zu Boden.
Abenteuer in Neu-Karthago
Ja, das ist nun Iberien! dachte der junge Publius Scipio, während er als frischgebackener Konsul und Feldherr das Schiff verließ, das ihn über das Meer gefahren hatte. Von hier aus brach Hannibal zu seinem Marsch über die Pyrenäen und die Alpen auf. In dieses Land kam ich als Sechzehnjähriger mit meinem Vater, der hier den Krieg an der Wurzel ausmerzen wollte. Aber die Götter fügten es anders. Der Vater wurde nach Italien zurückgerufen und mußte dort eine schmerzliche Niederlage erleben. Dennoch holte Iberien ihn wieder zurück. Und während Rom auf italischem Gebiet Niederlagen erlitt, die mit der Schlacht am Ticino überhaupt nicht mehr zu vergleichen waren, kamen aus Iberien - nur aus Iberien - gute Nachrichten.
Als erster römischer Feldherr überschritt der Vater den Ebro, der die Grenze zum karthagischen Gebiet bildete. In den Entscheidungsschlachten, die im zweiten Kriegsjahr stattfanden, vernichtete er die karthagische Flotte und eroberte die gesamte iberische Ostküste bis nach Neu-Karthago. Angesichts seiner Siege erhoben sich die Iberer gegen die Karthager, und Hannibals Bruder Hasdrubal mußte mit den Resten seines Heeres an die Westküste des Landes fliehen.
In diesen Jahren konzentrierte sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Kämpfe in Italien, und kaum jemand merkte, daß mein Vater inzwischen durch seine Siege in Iberien Italien rettete. Erst vor kurzem wurde bekannt, daß Hasdrubal schon gleich nach der Schlacht bei Cannae mit seinem Heer zu Hannibal stoßen sollte und Hannibal nur deshalb Rom nicht angriff, weil er auf seinen Bruder wartete, der ihm Elefanten und Belagerungsgeschütze bringen wollte. Rom wäre rettungslos verloren gewesen, wenn sich ein zweites karthagisches Heer wie eine Schneelawine von den Alpen herabgewälzt hätte. Das hat mein Vater verhindert. Der römische Senat aber würdigte seine Verdienste erst dann, als bekannt wurde, daß die Karthager ein neu aufgestelltes Heer, das für Italien bestimmt gewesen war, statt dessen nach Iberien senden mußten. Nun meldeten sich auch in der Volksversammlung Männer, die aus eigenen Mitteln Lebensmittel kaufen und sie nach Iberien schik-ken wollten, um meinen Vater zu unterstützen. Und als dieser die zweiundvierzig Feldzeichen nach Rom sandte, die er in den Schlachten gegen die Karthager erbeutet hatte, als alle iberischen Völkerstämme zu uns übergingen, da verstummten in Rom auch die letzten Neider. Und jedermann begriff, daß der Schlüssel zum Sieg über Hannibal in den iberischen Bergen zu suchen war.
Aber es sollte Publius Scipio dem Älteren nicht gelingen, diesen Schlüssel zu finden. Er starb auf der Höhe seines Ruhms.
Zu seinem Nachfolger wurde sein Sohn ernannt. Publius verdankte eine solche Ehre nicht etwa seinen bisherigen Verdiensten, sondern ausschließlich der Tatsache, daß er den gleichen Namen trug wie sein Vater. Der Name Publius Scipio gehörte nach Meinung der Römer ebenso untrennbar zu Iberien wie die Namen der iberischen Berge und Flüsse. Sie hatten sich daran gewöhnt, daß ein Scipio in Iberien siegte, daß ein Scipio Städte eroberte und feindliche Feldzeichen nach Rom schickte. Und wenn es in Iberien keinen Scipio mehr gab, so glaubte Rom, dann würde man von dort auch keine guten Nachrichten mehr erhalten.
Читать дальше