Die Römer nutzten Karthagos schwierige Lage aus, um ihre Angriffe in Iberien zu verstärken. Zu den Truppen des Gnaeus Scipio, der sich seit Beginn des Krieges in Iberien aufhielt, stießen die Legionen seines Bruders Publius Scipio, des ehemaligen Konsuls. Offenbar hielten die Römer Iberien für kriegsentscheidend, denn sonst hätten sie sich wohl nicht entschlossen, ihren besten Feldherrn nach Iberien zu schicken, obgleich sie in Italien eine Niederlage nach der anderen erlitten.
Die Römer hatten ihr Lager am Ebro aufgeschlagen, die Karthager fünf Meilen davon entfernt. In den ersten Tagen lieferten sich die Feinde nur kleine, vorbereitende Gefechte. Dann aber entschloß sich Hannibals Bruder Hasdrubal, der das karthagische Heer führte, zur Entscheidungsschlacht. Mittags verließ sein Heer das Lager und marschierte auf den Ebro zu.
Es war die erste Schlacht, an der Masinissa teilnahm. Seine numidischen Krieger besaßen je zwei Pferde. Auf dem einen ritten sie, das andere führten sie am Zügel, und während der Schlacht wechselten sie von dem erschöpften Pferd auf das frische über. Nur Masinissa hatte kein Reservepferd bei sich. Er ritt wie immer seinen Merges.
Fürchterlich war der Angriff der römischen Legionäre. Sie wußten, daß ihre Rückkehr ins Vaterland vom Ausgang dieser Schlacht abhing, und waren entschlossen, zu siegen oder zu sterben. Anders verhielt es sich bei den Iberern in Hasdrubals Heer. Falls sie siegten, würden sie nach Italien geschickt werden, um Hannibals Heer zu verstärken. Das wollten sie vermeiden und waren bereit, sogar eine Niederlage dafür in Kauf zu nehmen. Aus diesem Grunde wich das aus Iberern bestehende Zentrum des karthagischen Heeres schon gleich nach Eröffnung der Schlacht zurück. An den beiden Flanken, wo Hasdrubal die Afrikaner aufgestellt hatte, wurde mehr Widerstand geleistet. Trotz aller Anstrengung gelang es den Römern nicht, die Flanken aufzureißen, aber auch Hasdrubal brachte es nicht fertig, sie zu einer Umzingelung zu schließen und in Iberien ein Cannae zu wiederholen.
Daraufhin führten die Römer ihre große, hauptsächlich aus Iberern bestehende Reiterei ins Feld. Aber Masinissas Reiter deckten das karthagische Heer zuverlässig ab, obgleich sie den Römern an Zahl unterlegen waren. Jeder Numidier kämpfte für zwei. Ihre Pferde kannten keine Erschöpfung.
Gegen Abend zogen sich die Karthager allmählich zu ihrem Lager zurück. Die numidischen Reiter bildeten die Nachhut. Plötzlich löste sich aus ihren Reihen ein Reiter auf einem Schimmel -Masinissa. Er sprengte mitten hinein in die verfolgenden Römer, erreichte den Fahnenträger - ehe die Römer recht wußten, was geschah -, entriß ihm das Feldzeichen, in das ein Specht, das Wappentier der Truppe, eingestickt war, und jagte davon. Die Legionäre waren verwirrt. Der Verlust der Fahne war eine große Schande, für die alle bestraft würden. Mehrere römische Kavalleristen setzten dem Verwegenen nach. Masinissa duckte sich auf Merges' Hals. Der Wind pfiff ihm um die Ohren und riß am Tuch des römischen Feldzeichens, das er in der Eile nicht zusammenrollen konnte. Er bedauerte jetzt, daß ihm in der Schlacht nicht zwei Pferde zur Verfügung gestanden hatten. Nun war Merges erschöpft und keuchte, während die Römer über ausgeruhte Pferde verfügten. Sie kamen immer näher, das Tuch, das er in der Hand hielt, zog sie unwiderstehlich an. Schon hätten sie ihn oder Merges mit dem Wurfspieß erreichen können. Warum taten sie das nicht? Masinissa spähte voraus. In einiger Entfernung versperrte ihm der Ebro mit seinen Steilufern den Weg. Sie wollen mich lebendig fangen! dachte er und trieb Merges zu schnellerem Lauf an.
Leichtfüßig schwang sich der Schimmel in die Luft und setzte über den Fluß. Die Römer zügelten ihre Pferde mühsam am Rande des Uferhangs. Masinissa blickte zurück. Die Feinde sandten ihm nur kraftlose Flüche nach.
Er ritt noch eine Strecke, sprang dann aus dem Sattel, warf das Feldzeichen mit dem Spechtbild zu Boden und streichelte Merges dankbar den schweißnassen Hals.
„Sophonisbe weiß nicht, welcher Gefahr wir entgangen sind", sagte Masinissa leise. „Diesen römischen Vogel werde ich Hanno schicken. Soll ihn der Alte sich übers Bett hängen, und wenn ihm ein Vogel nicht genügt, werden wir beide ihm einen zweiten beschaffen. Nicht wahr, Merges?" Merges wieherte ungeduldig, als wollte er Masinissa zum Aufbruch drängen.
„Ja, du hast recht", sagte Masinissa, „es wird Zeit für uns. Hasdrubal und Magon fürchten sicherlich schon, daß uns die Götter des Todes geholt haben. Doch wir werden ihnen dies hier vorweisen." Er hob das römische Feldzeichen von der Erde auf und sprang in den Sattel.
Das Schiff erhielt einen Stoß und legte sich auf die Seite. Magon, der am Heck saß, mußte sich festhalten, um nicht über Bord zu fallen. Bevor er an Land ging, warf er einen bewundernden Blick auf das mit Bauten, Gärten und Hainen geschmückte Ufer; hier wetteiferte die Kunst der Menschen mit der Natur. Schade, daß sein Bruder nur einen kleinen Abschnitt dieses Uferstreifens besetzen konnte! Nola, Neapel und die anderen malerisch gelegenen Städte waren Rom treu geblieben. Magon hatte gehört, daß Hannibal bei der Belagerung von Nola zweieinhalbtausend Krieger und - was noch schlimmer war - einen ganzen Sommer verloren hatte. Und das kleine Nest, in dem das Schiff vor Anker ging, war von seinen Bewohnern verlassen und schon halbzerstört von Hannibal übernommen worden.
Die Straße nach Capua führte an Weinbergen vorbei. Es war die Zeit der Lese. Die mit bernsteingelben oder purpurroten Trauben gefüllten Körbe wurden von den Sklaven zur Straße hinuntergetragen und kleinen Eseln auf die Rücken gebunden.
Hannibal hatte sein Lager nicht in Capua aufgeschlagen, sondern fünf Meilen davon entfernt, am Ufer des Volturno. Auf dem Weg dahin traf Magon wiederholt Söldner, die zu zweit oder zu dritt gingen und in ihrer Muttersprache Lieder grölten. Einige wurden von halbnackten, stark geschminkten Frauen begleitet.
Im Gras lagen einige Soldaten, an ihrer Kleidung als Iberer erkennbar. Im Vorübergehen hörte Magon ein paar Fetzen ihres betrunkenen Geschwätzes.
„Als ich aus dem Amphitheater komme, steht sie an der Ecke. Solche Augen! Na, und auch das übrige..."
„Und hast du sie da stehengelassen?"
Dröhnendes Gelächter.
Nein, die betrunkenen Soldaten rühmten sich nicht ihrer kriegerischen Heldentaten. Wenn man sie so ansah, konnte man kaum glauben, daß sie sich in Feindesland befanden. Magon wurde vieles klar. Sein Bruder Hannibal hatte neue gefährliche Feinde erhalten - Ausschweifung und Luxus. Sie drangen ins Heer ein und zerstörten es von innen, wie der Wurm den Apfel. Nach den entsetzlichen Strapazen in den Alpen, nach blutigen Schlachten, Dreck und Entbehrung waren Hannibals Krieger in dieses gesegnete Land gekommen, das die Belohnung für alles war, was sie ertragen hatten. Eine durchaus verdiente Belohnung! Sie den Soldaten zu rauben, ihnen das zu nehmen, was ihnen greifbar war und was sie verdient hatten - dazu hatte auch Hannibal nicht die Macht.
Hannibal schloß seinen Bruder in die Arme und führte ihn und seine Begleiter an die reich gedeckte Tafel. Und während Magon aus einem Silberbecher Falernerwein trank und an einem Hühnerbein knabberte, überlegte er: Ja, die Männer, die am Trasimenischen See und bei Cannae kämpften und siegten, haben ein Recht auf ein weiches Lager, auf einen guten Wein und auf schmackhaftes Essen. Dennoch ist all das Luxus und wird das Heer zugrunde richten.
„Nun erzähle, was du erreicht hast, Bruder", sagte Hannibal, nachdem Magon seinen Hunger gestillt hatte.
Und Magon gab einen Bericht von den Nackenschlägen, die die Karthager in Iberien erlebt hatten, von der Meuterei der Schiffsführer, dem Abfall der iberischen Bundesgenossen und der Schlacht am Ebro, wo sich nur Masinissa hervorgetan hatte.
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