Da warf Magon den Ratsherren wortlos einen kleinen Leinensack auf den Tisch. Im Saal wurde es still. Jeder glaubte, daß der Sack erbeutete Listen oder andere Beweisstücke enthielte.
Aber als Magon die Verschnürung aufriß, fielen goldene Ringe heraus, Hunderte, Tausende von Ringen. Sie bedeckten den Tisch, einige rollten zu Boden, und hastig sprangen die Ratsherren hinzu, um sie aufzulesen.
„Was soll das bedeuten?" riefen erstaunte Stimmen.
„Die Römer tragen Ringe an den Fingern, genau wie wir", erwiderte Magon sachlich. „Doch im Gegensatz zu uns sind bei ihnen die Ringe keine Belohnungen für siegreiche Feldzüge, sondern Zeichen der Senatoren- oder Ritterwürde. Kein Römer trägt mehr als einen Ring. Diese Ringe wurden auf dem Schlachtfeld von Cannae gesammelt. Zähle nach, Hanno, wie viele römische Senatoren und Ritter in dieser Schlacht fielen."
Die Ratsherren klatschten Beifall.
Hanno antwortete nicht. Das Blut war ihm ins Gesicht geschossen. Wieder war es den Söhnen Hamilkars gelungen, die Zustimmung des Großen Rates zu erlangen. Wieder hatten sie ihr Ziel erreicht.
„Zähle, Hanno!" rief Magon. „Was zögerst du? Du kannst doch so gut rechnen! Bist du so ungeduldig, deinen Anteil an der italischen Beute zu erhalten? Du kommst mir vor wie ein Wucherer, der Prozente haben will, ohne etwas verliehen zu haben."
Die Worte trafen Hanno wie Hammerschläge. Er konnte ihnen nicht ausweichen. Unter den spöttischen Blicken der Ratsherren verließ er den Saal.
Es war ein Sieg Hannibals und seiner Brüder, der scherzhaft als zweites Cannae bezeichnet wurde.
Mit großer Mehrheit beschloß der karthagische Rat, Hannibal viertausend numidische Reiter, vierzig Elefanten und tausend Barren Silber zu schicken. Magon erhielt den Auftrag, nach Iberien zu fahren und dort zwanzigtausend Infanteristen und viertausend Kavalleristen zu sammeln. Dieses Heer sollte ebenfalls nach Italien geschickt werden.
Freudig erregt verließ Magon den Großen Rat. Vor dem Ausgang wartete ein Reiter. Sein Schimmel scharrte ungeduldig mit den Hufen.
Bewundernd betrachtete Magon das herrliche Pferd. In den Jahren, die er in Hannibals Heer verbracht hatte, waren ihm viele schnellfüßige Renner vor Augen gekommen. Aber er konnte bei Melkart schwören, daß sich darunter kein so edles Pferd befunden hatte. Es war weiß wie Kreide; und kein anderes Pferd hatte wohl so starke, schlanke Beine.
Magon war dermaßen in die Betrachtung des Schimmels vertieft, daß er nicht auf den Reiter achtete, der einen Umhang aus Leopardenfell auf dem wohlgebauten, hageren Leib trug. Er mochte höchstens dreißig Jahre alt sein.
„Sei gegrüßt, Magon!" sagte er und sprang aus dem Sattel. „Ich habe dich sofort erkannt."
Magon warf ihm einen forschenden Blick zu. Nein, er sah dieses Gesicht zum erstenmal.
„Woher kennst du mich?" fragte er.
„Magon gleicht seinem Bruder", antwortete der Unbekannte ausweichend.
„Hast du unter Hannibal gedient? Aber weshalb erinnere ich mich nicht an dein Gesicht?"
„Weil ich deinen Bruder kennenlernte, als dein Vater noch lebte und
Hannibal noch kein Heer besaß. Ich heiße Masinissa."
Magon schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Mein Bruder spricht häufig von dir. Er hat mir aufgetragen, nach dir zu suchen. Aber in ganz Karthago konnte mir niemand sagen, wo du dich aufhältst. Es hieß, du seist verschwunden."
„Wo ich war, weiß nur Merges."
Bei seinem Namen wandte das Pferd den schönen Kopf mit den klugen Augen nach seinem Herrn, und als Masinissa ihm die Hand auf den Hals legte, trat es in freudiger Ungeduld von einem Fuß auf den anderen.
„Aber Merges kann nicht reden", fuhr Masinissa fort. „Wenn er auch die Menschen besser versteht als ich. Afrika ist groß. Noch kein Sterblicher hat seine Grenzen ausgemessen. Ich und Merges lebten dort, wohin bisher noch kein numidisches Pferd die Hufe setzte. Wir waren im Lande der Berge, wo die Felsen bedeckt sind mit den Bildern von jenen Menschen, die dort in grauer Vorzeit mit Jagdwagen, mit Speeren und Pfeilen auf Gazellen und Nashörner Jagd machten. Wir streiften durch unwegsame Wälder. Über unseren Köpfen funkelten fremde Sterne, die bisher noch kein Mensch des Mittelmeeres erblickte."
„Du hast unrecht, Masinissa. In jenem Lande, wo die fremden Sterne funkeln, weilte schon vor dreihundert Jahren Hanno, der Seefahrer."
Bei dem Namen Hanno fuhr Masinissa zusammen.
„Von diesem Hanno hörte ich noch nicht", erwiderte er dumpf. „Aber ich kenne einen anderen Hanno. Seinetwegen blieb ich fünf Jahre lang der Heimat fern. Jetzt bin ich nach Karthago zurückgekehrt, weil ich seine Tochter nicht vergessen kann."
„Weiß Hanno, daß du in Karthago bist?"
„Diesmal hat er mich nicht hinausgeworfen wie vor fünf Jahren. Er gestattete mir sogar, sie wiederzusehen."
„Meinen Glückwunsch, Masinissa! Ich freue mich, daß du dein Glück errungen hast. Falls ich noch länger in Karthago bleibe, will ich bei deiner Hochzeit zu Gast sein."
„Bei meiner Hochzeit", wiederholte Masinissa traurig. „Es ist noch zu früh, von Hochzeit zu sprechen. Hanno hat mir eine Bedingung gestellt. Ach, hätte er das doch vor fünf Jahren getan! Dann würde ich Hannibals ganzen Feldzug mitgemacht haben."
„Und wie lautet die Bedingung?"
„Hanno sagt, daß seine Tochter ihm zu schade zur Heirat mit einem Unbekannten sei. Er will mich nur dann mit ihr vermählen, wenn ich König oder ein berühmter Kriegsheld geworden bin. Bringe mich deshalb zu Hannibal. Das war seit jeher der Wunsch meines Vaters. Er wird sich freuen, wenn er erfährt, daß ich ein Krieger geworden bin. Möge er noch hundert Jahre leben! Ich will mein Glück nicht seinem Tode verdanken, sondern nur mir selbst!"
„Dein Entschluß ist richtig. Aber es wird noch eine Weile dauern, bis ich zu Hannibal zurückkehre. Ich habe den Befehl, mich nach Iberien zu begeben, wo mein Bruder Hasdrubal gegen die Römer kämpft, ihm beizustehen und dort ein Heer aufzustellen. Wenn du willst, mache ich dich zum Kommandeur der Reiterei. Mit diesem Heer wollen wir über die Pyrenäen und die Alpen nach Italien ziehen."
Masinissa nickte zustimmend.
Offenbar hatte Masinissa einen langen Ritt hinter sich. Sein Umhang war staubbedeckt, sein Pferd glänzte vor Schweiß. Aber seine Augen strahlten Sophonisbe an.
Sie streichelte Merges den Hals.
„Vorsicht, daß er dich nicht beißt, er ist wild", sagte Masinissa hastig. Aber das Pferd stand unbeweglich, schielte Sophonisbe nur von der Seite an und schnaubte.
Sie lachte. Der verblüffte und etwas erschrockene Ausdruck in Merges' Augen erinnerte sie an ihre erste Begegnung mit Masinissa vor dem Tempel der Tanit. Er hatte damals ein ähnliches Gesicht gemacht, so als wäre nicht sie, Sophonisbe, sondern die Göttin selbst aus dem Tempel getreten. Und wie komisch er sich bei dem Streit mit dem Vater benommen hatte, dieser Jüngling mit dem langen Namen, der wie der Schrei eines Steppenvogels klang.
„Merges hat keine Angst vor dir", Masinissa strich dem Tier über die Mähne. „Er merkt, daß ich dein Freund bin. Dort aber" - er wies auf Hannos Palast - „weiß man das nicht. Dort glaubt man, ich würde dir etwas zuleide tun, und will, daß ich auf dich warten und erst einmal meine Tapferkeit im Kampf gegen eure Feinde, die Römer, beweisen soll. Das will ich tun. Doch danach werden wir immer beisammen sein."
„Immer?" wiederholte Sophonisbe.
„Ja. Ich werde mich niemals von dir trennen. Wir werden zusammen auf die Jagd reiten, nebeneinander im Gras liegen und in die Sterne schauen. Du weißt, jeder Mensch besitzt seinen Stern, den die Götter zur selben Zeit schufen wie ihn. Wenn der Stern fällt, stirbt der Mensch. Dein Stern ist wahrscheinlich schöner und leuchtender als jeder andere. Nachts betrachte ich häufig den Himmel und suche ihn. Ich habe das Gefühl, wenn ich ihn fände, würde ich dich niemals verlieren. Aber am Himmel stehen so viele Sterne! Sie funkeln auf, erlöschen, wechseln die Plätze, als wollten sie mich verspotten, und hüllen sich in einen blauen Vorhang, so daß ich sie nicht mehr sehen kann."
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