„Laß das!" ächzte er. „Vergeude nicht deine Zeit mit mir! Melde den Senatoren, daß sie Rom befestigen sollen! Und richte Fabius aus, daß ich seine Ermahnungen getreulich befolgte!"
„Die Götter brauchen deinen Tod nicht, Aemilius", redete Publius ihm zu. „Du trägst als einziger an diesem Unglück keine Schuld. Gib mir die Hand, ich will dir aufs Pferd helfen!"
Aemilius schüttelte den Kopf.
„Laß mich als Konsul inmitten meiner Soldaten sterben. Das ist besser, als in der Rolle eines Angeklagten vor dem Senat zu stehen."
Die letzten Worte hörte Publius nicht mehr. Ein neuer Flüchtlingsstrom trieb ihn von dem Sterbenden weg.
In der Erkenntnis, daß die Rettung nicht am jenseitigen Ufer zu finden war, wo die feindliche Kavallerie schon auf die Flüchtlinge wartete, sondern im Fluß selber, sprang er in das eiskalte Wasser und schwamm so lange, wie seine Kräfte reichten.
Über das Schlachtfeld senkte sich die Nacht. Der Mond verschwand hinter den Wolken, als könnte er den entsetzlichen Anblick nicht länger ertragen. Seit er über die Erde wanderte, waren noch niemals so viele Menschen in einer Schlacht ums Leben gekommen.
Im Morgengrauen trat Hannibal aus seinem Zelt und blickte zum Schlachtfeld hinüber. Dort lagen die Römer zu Tausenden, Infanteristen neben Kavalleristen, durch den Tod vereint. Einige Verwundete erwachten durch die Morgenkälte aus ihrer Ohnmacht, richteten sich zwischen den Leichenhaufen auf und flehten mit entblößter Brust um den Tod.
Die Balearer und Gallier gingen einzeln oder in kleinen Gruppen über das Schlachtfeld. Sie gaben den Verwundeten den Gnadenstoß, nahmen den Toten den Goldschmuck und den Pferden das silberbeschlagene Zaumzeug ab. In der Nähe schachteten mehrere Gefangene, von Berittenen bewacht, eine lange tiefe Grube aus. In ihr sollten die achttausend gefallenen Krieger des karthagischen Heeres gemeinsam begraben werden.
Zu Hannibal gesellten sich mehrere Kommandeure, unter ihnen auch sein Bruder Magon.
„Freunde", sagte Hannibal, „von dieser Schlacht werden noch unsere Enkel und Urenkel berichten. Doch nun müssen wir ausruhen und neue Kräfte sammeln."
„Wie kannst du jetzt von Ruhe reden!" brauste Magarbal auf. „Wir dürfen keinen Augenblick verlieren! Ich will mich mit der Reiterei sofort in Marsch setzen. Du folgst mir mit dem übrigen Heer nach. In vier Tagen werden wir in Roms Mauern unseren Sieg feiern!"
Nachdenklich schüttelte Hannibal den Kopf.
„Das ist noch zu früh."
„Warum?" rief Magarbal. „Willst du etwa, daß auch dieser große Sieg den Krieg nicht beendet? Hast du die Absicht, Karthago aufzugeben und endgültig in Italien zu bleiben, ähnlich wie dein Vater, der seinen karthagischen Besitz verkaufte und sich in Iberien ansiedelte?"
„Nein, es ist noch zu früh", wiederholte Hannibal nachdrücklich. „Aber ich danke dir für deine Bereitwilligkeit, Rom zu erstürmen."
„Ich sehe, daß die Götter keinem Sterblichen restlos alle Begabungen schenken!" murmelte Magarbal bekümmert. „Du hast es gelernt zu siegen, Hannibal, aber du verstehst es nicht, deine Siege zu nützen."
Hannibal antwortete nicht. Er wandte sich ab und schlenderte ans Ufer des Aufidus, wo die Numidier die Gefangenen zusammentrieben. Magon holte ihn ein, und wortlos gingen die Brüder nebeneinanderher. Am Fluß blieben sie stehen, um die Gefangenen zu betrachten. Viele waren verwundet, und alle hatten erschöpfte, teilnahmslose Gesichter. Plötzlich löste sich ein etwa vierzigjähriger Mann mit hagerem, unrasiertem Gesicht aus ihrer Mitte. Er starrte Hannibal so selbstvergessen an, als hätte er einen Gott vor sich.
„Willst du etwas von mir?" fragte Hannibal in gebrochenem Lateinisch.
„Du kannst griechisch mit mir sprechen", antwortete der Gefangene.
„Bist du Grieche?" erkundigte sich Hannibal in dieser Sprache.
Der Gefangene antwortete nicht, ließ aber noch immer kein Auge von Hannibal.
„Warum schweigst du? Wenn du kein Römer bist, schenke ich dir die Freiheit."
„Ich heiße Gnaeus Naevius", erwiderte der Gefangene, „und habe drei Naturen. Wenn ich an die Römer denke, die mir mein kampanisches Landgut nahmen, verfluche ich sie in kampanischer Sprache. Wenn ich mich darüber freue, daß ich am Leben geblieben bin, bete ich in griechischer Sprache zu den Musen. Aber meine Gedichte schreibe ich auf lateinisch."
„Du bist also Dichter?"
„Ja, ich wurde als Dichter bezeichnet, solange ich nach den Sagen Homers Theaterstücke schrieb. Seitdem ich aber Spottgedichte über das Patriziergeschlecht der Meteller verfasse, nennt man mich nur noch Naevius und ergänzt zuweilen: der Naevius, der im Gefängnis gesessen hat."
„Was veranlaßte dich, Soldat zu werden, obgleich die Römer dich so schlecht behandelten?"
„Ich wollte dich zu Gesicht bekommen. Der Dichter muß die Helden seiner Werke kennen. Ich will ein Poem über diesen Krieg schreiben."
„Demnach habe ich schon einen eigenen Dichter!" lachte Hannibal.
„Erinnerst du dich an unseren Unterricht bei dem griechischen Lehrer Sosylos?" sagte er zu Magon. „Wer wüßte noch etwas von Alexander von Makedonien, hätte niemand seine Heldentaten schriftlich festgehalten. Vielleicht wird die Nachwelt auch über mich nur aus den Büchern dieses Römers, Griechen oder Kampaniers etwas Näheres erfahren. Führe ihn zum Troß und laß ihm dort drei Fladen Brot und drei Becher guten Wein geben."
„Ein Glück, daß er nur drei Sprachen spricht", lachte Magon. „Spräche er so viele Sprachen wie du, dann müßte er einen ganzen Weinschlauch austrinken."
„Und wenn du ihn abgeliefert hast, dann komm zu mir zurück", schloß Hannibal. „Ich muß mit dir sprechen."
Magon war klar, daß er wieder eine Reise nach Karthago machen sollte. Diesmal hatte er keine Lust, Italien zu verlassen; denn er war überzeugt, daß Hannibal nun bald in Rom einziehen würde, und wollte gern die Niederlage der Römer mit ansehen.
Am ersten Tage nach der Ankunft in Karthago begab sich Magon in den Großen Rat. Sein Bruder hatte ihn beauftragt, den letzten Sieg zu melden und um Verstärkung zu bitten.
Sein Bericht wurde von Beifall und freudigen Ausrufen der Stadträte unterbrochen. Alle schienen die Gefühle zu teilen, die er als Teilnehmer und Augenzeuge der großen Schlacht empfand. Aber das war nicht der Fall.
Hanno erstieg die Rednertribüne. Seine tiefliegenden Augen blickten hart und verächtlich, ein höhnisches Lächeln umspielte seinen Mund.
„Wiederholt hat man uns hier von den Siegen berichtet, die Hannibal errang", begann er. „Erst vor kurzem meldete man uns einen großen Sieg an einem See, dessen Namen ich vergessen habe. Dagegen erinnere ich mich noch genau, daß Hannibal uns damals um fünftausend Reiter bat und ich persönlich zu meinem Freund Syphax reisen mußte, um sie zu beschaffen. Nun erfahren wir wiederum von einem großen Sieg. Und diesmal werden doppelt so viele Reiter und doppelt so viele Silberbarren von uns gefordert. Noch ein Cannae, und unsere Stadt hat kein Geld und auch keine Soldaten mehr."
Die Zuhörer lachten.
„Richtig, Hanno!" rief eine Stimme.
Von dem Beifall beflügelt, fuhr Hanno fort: „Ich verstehe dich, Magon, ein Sieg macht blind. Schon dein Vater warf mir vor, daß ich die Zahl der Meuterer, die ich getötet oder gefangengenommen hatte, aufbausche. Gut möglich, daß das wahr ist. Aber habt ihr schon jemals gehört, daß an einem einzigen Tage fünfundvierzigtausend Soldaten vernichtet wurden? Und schließlich - willst du uns nicht erklären, wie dein Bruder es fertigbrachte, in einer so ungeheuren Menge von Toten die gefallenen Senatoren und Ritter zu zählen?"
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