„Ich will dir meinen Stern zeigen", sagte Sophonisbe traurig. „Es ist ein ganz gewöhnlicher kleiner Stern. Am Tage, als ich zur Welt kam, stieg er am Himmel auf und brachte Sommerhitze mit. Die Priester sagen, es sei ein Unglücksstern. Komm heute nacht, dann wollen wir ihn zusammen betrachten."
„Heute nacht bin ich schon auf See", erwiderte Masinissa. „In wenigen Stunden fährt die Flotte nach Iberien. Magon, Hannibals Bruder, will mich mitnehmen. Dein Vater wird von mir hören. Im Kampfgetümmel Iberiens werde ich deinen Stern finden."
Die Reste des von Hannibal besiegten römischen Heeres sammelten sich in Canusium, einer Stadt in der Nähe von Cannae, neun Meilen stromabwärts des Aufidus. Es war ein kleiner Ort, der aber dicke Mauern besaß und zu den stärksten Festungen Italiens gehörte. Hannibal war schon oft an Canusium vorübergezogen, hatte aber nie versucht, es einzunehmen.
Trotzdem fürchteten sich die Canusier vor den Karthagern, von deren Sieg schon ganz Italien erfahren hatte, und verschlossen vor den Römern ihre Häuser, um den Zorn der Karthager nicht herauszufordern.
Auf diese Weise erhielten die erschöpften römischen Legionäre nichts zu essen; sie wagten aber auch nicht, sich die Lebensmittel mit Gewalt zu nehmen, denn sie hatten Angst, daß die Canusier sich dann mit den Karthagern verbinden würden.
In der ganzen Stadt gab es nur eine einzige mitleidige Seele, eine alte Witwe, deren Mann im römischen Heer gedient hatte. Sie öffnete großzügig ihre Vorratshäuser in der Stadt und ließ durch ihre Sklaven außerdem Schafe und Schweine von ihrem Landgut holen und den Soldaten übergeben. Doch diese Lebensmittel würden höchstens für zwei bis drei Tage reichen. Was sollte dann geschehen?
Auf dem Stadtplatz sammelten sich die Flüchtlinge. Darunter befanden sich ganz alte Legionäre, deren Gesichter mit Narben bedeckt und deren Rücken durch die Last der Waffen gekrümmt waren. Daneben standen oder saßen halbe Kinder, deren Wangen das bronzene Rasiermesser noch nie berührt hatte. Sie hatten verstörte Augen und schmutzige, verweinte Gesichter. Cannae war ihre erste Schlacht gewesen; sie hatten das Grauen dieses Gemetzels erlebt, viele hatten sich totgestellt und waren so lange zwischen den Leichen liegengeblieben, bis sie unter dem Schutz der Dunkelheit entfliehen konnten. Andere, wie der junge Kommandeur Publius Scipio, waren durch die schnelle Strömung des Aufidus davongetrieben und gerettet worden. Sie hatten geschworen, der Gottheit dieses Flusses ein Dankopfer zu bringen.
Publius hatte den langen Aufenthalt im kalten Wasser nicht unbeschadet überstanden. Ihn schüttelte das Fieber. Seine Zähne klapperten. Aber er nahm sich zusammen und verteilte mit den anderen Kommandeuren Korn und Fleisch unter den Legionären. Plötzlich legte sich ihm eine Hand auf die Schulter.
„Du bist es, Philus?" sagte er zu einem jungen Mann. „Was ist?"
„Eine Verschwörung!" stieß Philus mit zitternder Stimme hervor. „In einem Hause der Meteller haben sich viele Kommandeure versammelt. Sie wollen mit dem Schiff aus Italien fliehen!"
Wieder die Meteller! dachte Publius. Ihm fiel die Begegnung mit Gnaeus Naevius ein, der die Ränke dieser Patrizierfamilie entlarvt hatte. Jetzt wollte ein Meteller die Krieger zum Verrat anstiften. Nein, das durfte nicht geschehen.
„Freunde!" rief er über den weiten Platz. „Wir haben den entsetzlichen Tag von Cannae überlebt, aber jetzt droht uns neues Unheil! Wem die Rettung des Vaterlandes am Herzen liegt, der folge mir!"
Die Verschwörer schickten sich gerade an, das Haus zu verlassen, als ihnen Publius mit mehreren Legionären in den Weg trat.
Unentschlossen prallten sie zurück. Was wollte dieser junge Kommandeur von ihnen?
„Besinnt euch!" rief Publius ihnen zu. „Ihr vergeßt eure Pflicht gegenüber dem Vaterland!"
„Unsere Pflicht?" wiederholte der nicht viel ältere Meteller spöttisch. „Erfüllt etwa das Vaterland seine Pflicht uns gegenüber? Wir wollen keine Sklaven der Karthager werden und auch nicht das Gnadenbrot einer alten Witwe essen. Ein Cannae genügt uns. Wir wollen frei sein!"
„Aber um welchen Preis willst du deine Freiheit bewahren, du Verräter!" versetzte Publius. „Um den Preis der Versklavung deiner Mutter und deiner Schwester? Um den Preis ihrer Demütigung und Schande? Nein, ein Römer kann nicht frei sein, solange Hannibal auf der italischen Erde weilt."
„Schluß mit dem Gefasel!" schrie der Meteller. „Wir haben keinen anderen Ausweg. In Rom wird man uns als Feiglinge zum Tode verurteilen, wenn dort bekannt wird, daß wir vor Hannibal geflohen sind. Und wenn Hannibal uns erwischt, wird er uns zu Sklaven machen, weil wir Römer sind. Und wenn wir in Canusium bleiben, verrecken wir vor Hunger!"
„Nein, wir haben noch einen anderen Ausweg!" widersprach Publius. „Wir dürfen die Waffen nicht wegwerfen! Zwar sind wir nur noch wenige und haben nicht die Kraft, Hannibal eine entscheidende Niederlage zuzufügen, aber wir sind imstande, seine Truppen des Nachts zu überfallen, ihm den Troß zu rauben, seine Vorratslager zu vernichten. -Möge der allmächtige Gott Jupiter mich und mein ganzes Geschlecht vernichten, wenn ich diese Waffe nicht im Blut des Feindes bade!" Er schwang sein Schwert über dem Kopf des Metellers. „Hört, ihr Verschwörer. Sprecht diesen Schwur nach, sonst seid ihr des Todes!"
„Möge der allmächtige Gott Jupiter mich und mein ganzes Geschlecht vernichten, wenn ich diese Waffe nicht im Blut des Feindes bade!" wiederholten viele Stimmen in dumpfem Chor.
Hannibal hielt seinen Einzug in Capua. Tausende Einwohner standen auf Straßen und Plätzen, um den berühmten Feldherrn zu sehen. Die reichen Kaufleute hatten den Weg vom Stadttor bis zum Hause des Pacuvius, wo Hannibal wohnen würde, mit bunten Teppichläufern belegen und mit den berühmten kampanischen Rosen bestreuen lassen, deren köstlicher Duft von den Dichtern besungen wird. Die Willkommensrufe verschmolzen zu einem Brausen, das dem der Meeresbrandung glich.
Zwei Jahre lang war Hannibal nun schon in Italien, und während der ganzen Zeit hatte Capua den Römern die Treue gehalten. Zwei Jahre lang hatten die Senatoren Capuas, die mit den römischen Senatoren verschwägert waren, das Verlangen des Volkes nach einem Bündnis mit Hannibal gezügelt! Erst nach der Schlacht bei Cannae, als auch die Angst vor der Rache Roms geschwunden war, hatten sie sich zu einem solchen Bündnis bereit gefunden, zumal sie damit nun ehrgeizige Pläne verfolgten. Sie hofften, daß Capua mit Hannibals Hilfe in der Lage sein würde, sich die von Rom geraubten Ländereien zurückzuholen und zur ersten Stadt Italiens aufzusteigen. Sie versperrten sich jeden Rückweg, indem sie sämtliche römischen Bürger, die sich in geschäftlichen Angelegenheiten in Capua und Kampanien befanden, verhafteten und umbrachten. Anschließend schlössen sie mit Hannibal ein Bündnis unter der Bedingung, daß Capua seine Unabhängigkeit, Selbstverwaltung und Gerichtsbarkeit behielte.
Es war Hannibals Absicht, unmittelbar nach der Ankunft den Senat von Capua zusammenzurufen, um einen Plan des gemeinsamen Vorgehens gegen Rom auszuarbeiten, aber seine Gastgeber protestierten.
„Zunächst wollen wir dir ein Gastmahl geben, und dann zeigen wir dir die Stadt!" erklärte Pacuvius, einer der capuanischen Gastgeber.
Nach dem Essen befahl Hannibal Gnaeus Naevius zu sich.
„Du wirst mich bei meinem Rundgang durch die Stadt begleiten!" erklärte er. „Die Capuaner sollen sagen: ,Das ist Hannibal in Begleitung seines Dichters.'"
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