Für mich ist die Aufgabe der Verkehrsunfallaufnahme die Veredelung des Schutzes privater Rechte. Dieser ist der Polizei zwar über die Polizeigesetzte nur subsidiär zugeschrieben, wenn für den Schutzsuchenden gerichtlicher Schutz nicht rechtzeitig erreichbar ist 3. Ist man jedoch in einen Verkehrsunfall verwickelt, nehmen die Rechtsfolgen und Ansprüche mit der Unfallschwere zu. Hier kommt es extrem auf die Qualität der Unfallaufnahme und die Professionalität des Polizeibeamten an, will man in der Folge nicht in unendliche Rechtstreitigkeiten bei der Durchsetzung seiner berechtigten Ansprüche verwickelt werden. So ist auch die Hauptaufgabe der Polizei, Gefahren für die Allgemeinheit und den Einzelnen abzuwehren. Für den Verkehrspolizisten dreht sich deshalb alles um die Sicherung des Straßenverkehrs und die Abwendung von Sach- und Personenschäden – eine verantwortungsvolle, aber auch sehr edle Aufgabe.
Bei der Außenwahrnehmung der Polizei kommt es natürlich auch auf die besonderen Einflüsse der Region, der Menschen und deren Mentalität an.
Um den in der „Kurpfalz“ verwurzelten Verkehrspolizisten und sein Umfeld kennen zu lernen, reduziere ich nun alle Betrachtungen auf meine Heimatregion rund um Heidelberg und Mannheim – und nicht alles hat dabei Platz auf der Goldwaage.
Und um die Aktualität zu wahren, beleuchte ich die Verkehrsprobleme und Unfallgefahren in meiner Zeit als Verkehrspolizeichef von 2014 bis 2019, angereichert mit notwendigen Rückblenden.
1 Keine Überraschung, denn jedes individuelle Freiheitsrecht endet dort, wo es die Rechte eines anderen einschränkt 1 . Und in unserer digitalisierten Welt haben immer mehr Mitbürger verlernt, ihre Alltagsprobleme eigenständig durch Kommunikation und Interaktion zu lösen.
http://www.rechtslexikon.net/d/grundrechtsschranken/grundrechtsschranken.htm
2 Die Verkehrswissenschaft hat für solche Fälle, die den Straßenverkehr betreffen, den Ansatz der „Drei E“ 2 entwickelt. Das Erste steht für Engineering und umfasst alle baulichen und technischen Optionen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit. Hier ist die Polizei insbesondere bei der Unfalluntersuchung und als ständiges Mitglied in den Unfallkommissionen vor Ort vertreten. Das Zweite steht für Enforcement und umfasst alle Sanktionsmöglichkeiten für verkehrsgefährdendes Verhalten. Hierin sind alle repressiven Verkehrsüberwachungsmaßnahmen enthalten. Das Dritte steht für Education und beginnt beim verkehrserzieherischen Gespräch nach einem sanktionierten Verkehrsverstoß. Es lässt alle pädagogischen Spielarten zur Verbesserung des individuellen Verkehrsverhaltens zur Abwehr von Unfallgefahren zu. Diese „Drei E“ begegnen uns im verkehrspolizeilichen Alltag ständig. Der Verkehrspolizist auf der Straße wirkt und handelt überwiegend im zweiten und dritten „E“.
https://www.bast.de/DE/Verkehrssicherheit/Publikationen/Veranstaltungen/U-Russisch-Deutsche-Konferenz-2010/Moenninghoff-Vortrag.pdf?__blob=publicationFile&v=1a.a.O.zu Verbundstrategie
3§2 Absatz 2 PolG BW http://www.landesrecht-bw.de/jportal/;jsessionid=BE0DCF23A8EC5B1E251ED287792B1C1A.jp81?quelle=jlink&query=PolG+BW&psml=bsbawueprod.psml&max=true&aiz=true#jlr-PolGBW1992pP2
Kapitel 1: Kurpfälzer Eigenheiten
Vom Einfluss der Region
Vom Einfluss der historischen Entwicklung
Vom Einfluss der Mentalität auf das Handeln
Nicht allein das Angeborene, sondern auch das Erworbene ist der Mensch.Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)
Zum 1. Januar 2014 vollzog der damalige SPD-Innenminister Reinhold Gall eine umfassende Polizeireform. Aus 37 Polizeidirektionen in Baden-Württemberg wurden zwölf Flächenpräsidien gebildet. Für die Städte Heidelberg und Mannheim und den Rhein-Neckar-Kreis wurden die Polizeidirektion Heidelberg und das Polizeipräsidium Mannheim verschmolzen. Der Sitz des Präsidiums ging nach Mannheim.
Ich erhielt als erfahrener Verkehrspolizist den Auftrag, die größte Verkehrspolizeidirektion im Land zu planen. Zum Fusionsstichtag wurde ich dann auch mit der Wahrnehmung der Führungsaufgaben beauftragt. Da ich die achtziger und frühen neunziger Jahre beruflich in Heidelberg verbracht hatte und die meisten der älteren Kollegen noch kannte, sollte mir die Aufgabe nicht schwerfallen.
Allerdings wusste ich als „Einheimischer“, dass da nicht nur durch die vielfach ungeliebte Zwangsehe der Fusion ein Graben quer durch die Beamtenschaft verlief.
Nein, da gibt es auch eine unsichtbare Mentalitätsgrenze, die irgendwo zwischen Mannheim-Seckenheim und Heidelberg-Wieblingen verlaufen muss und die häufig in der Interaktion zwischen Heidelbergern und Mannheimern als Membran wirkt. Manchmal ist sie durchlässig, manchmal auch nur semipermeabel und manchmal wirkt sie als starre Mauer.
Was ist das, was die Heidelberger und die Mannheimer trotz gleicher Geschichte und Herkunft doch manchmal so grundverschieden erscheinen lässt?
Als gebürtiger Heidelberger, der sich in Mannheim sehr wohl fühlt, habe ich durch fünfundzwanzigjährige Erfahrungen natürlich auch eine plausible Erklärung entwickelt.
Um die Ursachen zu ergründen, muss man in die Geschichte der Region eintauchen.
Die Kurpfalz im Wandel der Jahrhunderte
Ich nehme Sie dazu mit ins 16. Jahrhundert, in das Herrschaftsgebiet der Kurfürsten, in die Kurpfalz. 4
Friedrich II . (Kurfürst von 1544 bis 1556) wagte es, 1545/1546 die Lehren Luthers in der Kurpfalz einzuführen. Wenig erbaut darüber war der römisch-katholische Kaiser Karl V. Schon bald begann der Monarch dieses Vorhaben zu unterdrücken.
Erst Friedrichs Nachfolger, Kurfürst Ottheinrich (1556 bis 1559) vollzog die Reformation. Auf sein Geheiß wurde die Heidelberger Universität im Geiste der Erneuerungsbewegung umgestaltet. Er ließ Klöster auflösen und gab große Buchbestände an die Universität. Und er führte die Bestände der Universität, der Stiftsbibliothek in der Heiliggeistkirche und der Schlossbibliothek der Kurfürsten von der Pfalz zur eigentlichen Bibliotheca Palatina 5zusammen. So schuf er, umringt von katholisch geprägten Fürstentümern, eine evangelische Landeshochschule und ein protestantisches Zentrum der Lehre.
Friedrich III . (1559 bis 1576), Anhänger der Calvinistischen Lehre 6, ließ später von Zacharias Ursinius 7, einem Schüler Calvins 8, den reformierten Heidelberger Katechismus 9erarbeiten. Die „Frage 80“ darin enthielt eine Verwerfung und Provokation der Katholiken hinsichtlich der päpstlichen Messe:
Und ist also die Messe im Grunde nichts anderes als eine Verleugnung des einzigen Opfers und Leidens Jesu Christi und eine vermaledeite Abgötterei. 10
Im August 1563 wurde diese neue Kirchenordnung verabschiedet. Damit wurde eine eigenständige, spezifisch kurpfälzische Variante des Reformiertentums geschaffen. Durch die Einführung des Calvinismus wurde die Kurpfalz jedoch im Heiligen Römischen Reich politisch weitgehend isoliert. Das prägte auch die Entwicklung des Heidelberger Bürgertums in einer der ältesten Universitätsstädte Europas und ist mithin ursächlich für den heute hohen Akademikeranteil unter den Berufstätigen.
Bedingt durch die vielen Reformationskonflikte der damaligen Zeit wurde die Pfalz zum Zufluchtsort für Glaubensflüchtlinge aus ganz Europa, unter ihnen viele Flamen und Wallonen aus Frankreich.
Allerdings muss man sich unter der Größe einer Stadt etwas anderes vorstellen als heutzutage. Heidelberg zählte anno 1588 gerade mal 6.300 Einwohner. So wirkten sich die Zuwanderungswellen stark auf die Struktur der Stadtgesellschaft aus.
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