Nikil Mukerji / Adriano Mannino
Covid-19: Was in der Krise zählt
Über Philosophie in Echtzeit
Reclam
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Für Li Wenliang
(gest. 7. Februar 2020 in Wuhan)
Eine ausführliche Quellensammlung findet sich auf www.katastrophenethik.de
2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2020
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961717-6
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014053-6
www.reclam.de
Vorwort Vorwort Wir schreiben diesen Essay als kritische Teilnehmer am gegenwärtigen Krisengeschehen. Anfang März sprachen wir uns für den Shutdown aus, der uns risikoethisch unausweichlich schien. Die Katastrophe erreichte unsere Gesellschaft unvorbereitet. Es war dringend Zeit erforderlich, gemeinsam über Lösungswege nachzudenken, ohne bereits irreversibel auf eine Durchseuchung festgelegt zu sein und eine Überlastung der Intensivmedizin zu riskieren. Wir müssen als Gesellschaft klären, wie wir mit der Krise mittel- und langfristig umgehen wollen. Vielleicht gelingt es uns mit dem vorliegenden Essay, philosophische Debattenanstöße zu liefern. Über den gegenwärtigen Katastrophenfall hinaus möchten wir anregen, der »Katastrophenethik« in der angewandten Philosophie einen prominenten Platz einzuräumen. Zu wichtigen Aspekten dieses vernachlässigten Gebiets versuchen wir hier einen Echtzeit-Beitrag zu leisten.
I Zur Philosophie der Katastrophe I Zur Philosophie der Katastrophe 1 Wuhan und wir China Wir schreiben den 31. Dezember 2019. China benachrichtigt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) über eine mysteriöse Lungenkrankheit, die in der Provinz Hubei aufgetreten war. Wenig später ist die Ursache erkannt: ein neues Coronavirus, SARS-CoV-2. Als Hauptsymptome der vom Virus verursachten Krankheit – Covid-19 – werden Fieber, trockener Husten und Atemnot ausgemacht. Offenbar ist in vielen Fällen infolge der akuten Atemnot eine Hospitalisierung notwendig. Aufgrund der vermutlich fehlenden Herdenimmunität ist absehbar, dass es zu einer exponentiellen Ausbreitung des Virus kommen kann: Jeder Erkrankte wird mehrere Menschen anstecken, die ihrerseits mehrere Menschen anstecken werden, und so weiter – eine explosionsartige Dynamik. Nach anfänglichem Zaudern – und Zensieren – schreiten die chinesischen Behörden bei wenigen hundert bekannten Infektionsfällen mit drakonischen Mitteln ein. Die Millionenstadt Wuhan, das Epizentrum der Epidemie, und die umliegenden Gebiete der Provinz Hubei werden militärisch abgeriegelt und unter Quarantäne gestellt. Die strikte Ausgangssperre wird mit Barrikaden auf Straßen, vor Quartieren und um Wohnblöcke durchgesetzt, mitunter auch mit dem Schweißgerät an der Haustür. Trotz dieser Maßnahmen steigt die Zahl der dokumentierten Fälle und Todesopfer rasant an. Anfang Februar werden etwa 20 000 Fälle und 500 Tote gemeldet. Doch was geht uns Wuhan an? Uns, eine Gesellschaft in Mitteleuropa, und uns, die Autoren dieses Essays? Die Risikoethik gehört zu unseren Forschungs- und persönlichen Interessengebieten. Wie uns das Katastrophenrisiko fasziniert, irritiert uns die oft nonchalante Risikopolitik unserer Gesellschaft. Im Brennpunkt unseres Interesses, mit dem wir täglich auf die ungebrochene Exponentialkurve in Wuhan blicken, steht damals die Frage: Wie hoch ist angesichts des globalen Vernetzungsgrads die Wahrscheinlichkeit, dass sich dieses Virus auf China beschränken lässt? In China kommt es – trotz der drakonischen Maßnahmen – schnell zu zehntausenden dokumentierten Fällen und tausenden Toten. Nicht auszuschließen ist zudem, dass die Staatspropaganda die Zahlen massiv schönt. Was wird also geschehen, wenn dieses Virus westliche Staaten erreicht, die gewiss nicht annähernd so drastisch einschreiten werden wie die chinesische Regierung? Wir befürchten – mit einiger Wahrscheinlichkeit – Schlimmes.
1 Wuhan und wir 2 Der Beitrag der Philosophie 2 Der Beitrag der Philosophie Erwägungen in Bezug auf Risikoabsicherung sind im Bereich der Entscheidungstheorie und der Risikoethik zu verorten. Das Kernthema dieser philosophischen Disziplinen bildet die Frage nach der rationalen und ethisch vertretbaren Entscheidung unter Unsicherheit.2 Zur korrekten Einschätzung der Unsicherheit bedarf es der Epistemologie (Erkenntnistheorie), zu der auch die Wissenschaftstheorie gehört. Sie kümmert sich darum, wie wir uns rational gerechtfertigt Überzeugungen aneignen können, d. h. wie wir uns Überzeugungen aneignen sollen. Die Epistemologie kann daher als Teil einer umfassend verstandenen Ethik begriffen werden, nämlich als Ethik unserer Überzeugungsbildung, also unseres kognitiven Handelns. Insoweit die Risikoethik unser kognitives Handeln betrifft, kann sie als Risikoepistemologie bezeichnet werden. Sie untersucht die Risikoaspekte unserer Überzeugungsbildung.
II Covid-19: War die Katastrophe vorhersehbar? II Covid-19: War die Katastrophe vorhersehbar? 1 Die Katastrophe, die niemand kommen sah Am 20. März 2020 lädt das Robert Koch-Institut (RKI) zur Pressekonferenz. Lothar Wieler, der Präsident des RKI, sitzt mit ernster Miene vor dem Mikrophon. Er sagt: »Wir sind alle in einer Krise, deren Ausmaß ich mir nie hätte vorstellen können.« Wenn Wieler, immerhin Deutschlands höchster Seuchenschützer, diese Aussage tätigt, dann war die Covid-19-Epidemie in Deutschland wohl unvorhersehbar, dann hätte niemand diese Katastrophe kommen sehen können. Diese These wollen wir im Folgenden diskutieren. Wir wollen aufzeigen, warum das Risiko, das sich in Covid-19 realisiert hat, früh erkennbar war und warum es durch geeignete Maßnahmen möglich gewesen wäre, dieses Risiko für Deutschland deutlich zu senken. Aus Sicht der Risiko- und Katastrophenethik hätte genau das geschehen müssen. Es geht uns dabei – wie gesagt – nicht um Schuldzuweisungen, sondern um einen philosophischen Beitrag zur Präventionsarbeit. War Covid-19 also vorhersehbar? Das hängt davon ab, wie man diese Frage versteht. Mit der Frage könnte zum Beispiel gemeint sein, dass man schon vor Beginn der Pandemie hätte wissen können, dass ein neuartiges Coronavirus in der Stadt Wuhan auf den Menschen überspringen und eine globale Gesundheitskrise auslösen würde. Eine solche Behauptung wäre offensichtlich unseriös.5 Bisher verfügen wir über keine wissenschaftlich fundierte Möglichkeit, derart spezifische Vorhersagen zu treffen. Dennoch sind wir der Meinung, dass zu jeweils unterschiedlichen Zeitpunkten mindestens drei Sachverhalte erkennbar waren, so dass wir drei Thesen formulieren können: These 1: Es war schon lange bekannt, dass eine Katastrophe dieser Art im Bereich des Möglichen liegt. These 2: Unmittelbar nach dem Ausbruch von Covid-19 in Wuhan gab es Anzeichen dafür, dass eine Pandemie bevorstehen könnte. These 3: Das Schadenspotential einer Covid-19-Pandemie war kurz nach dem Ausbruch erkennbar.
1 Die Katastrophe, die niemand kommen sah 2 Eine Krise des Denkens Конец ознакомительного фрагмента. Текст предоставлен ООО «ЛитРес». Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес. Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.
3 Auf welche Experten sollten wir uns stützen? Конец ознакомительного фрагмента. Текст предоставлен ООО «ЛитРес». Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес. Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.
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