Damit können wir schon jetzt eine wichtige erste Schlussfolgerung ableiten: Wenn Philosophie in der Tat einen wesentlichen Beitrag zur Lösung der komplexen Entscheidungsprobleme im Zusammenhang mit Covid-19 leisten kann, und wenn die entsprechenden Entscheidungen unmittelbar anstehen, dann können Philosophinnen und Philosophen sich nicht den Luxus erlauben zu warten, bis alle relevanten Daten vorliegen. Denn dann hat auch die philosophische Diskussion um Covid-19 eine Deadline.
Wir brauchen Philosophie in Echtzeit
Auch wenn Philosophie eine Deadline hat, bleibt in der Regel genügend Zeit, sich gedanklich zu orientieren, möglichst viele und möglichst hochwertige empirische Daten zu sammeln, verschiedene Thesen zu überdenken und nach reiflicher Überlegung zu urteilen. Philosophie mit Deadline impliziert für sich genommen keinen akuten Zeitdruck.
Im Fall der Covid-19-Epidemie bestand und besteht jedoch akuter Zeitdruck. Hier entfaltet sich direkt vor unseren Augen eine katastrophale Situation in hoher Geschwindigkeit. Sie konfrontiert uns mit enorm wichtigen philosophischen Problemen, die wir bisher womöglich nicht oder nur sehr unvollständig durchdacht haben. Und obwohl diese Probleme für uns gerade erst aufgetreten sind, haben sie schon eine Deadline – eine, die in diesem Augenblick abläuft. Aufgrund der hohen Dynamik des empirischen Geschehens müssen Fragen, Antworten und Argumente außerdem fortwährend weiterentwickelt und im Lichte neuer Informationen erneut überdacht werden. Diese für Katastrophen charakteristische Konstellation neuer philosophischer Probleme, kurzer Deadlines und dynamischer Entwicklungen erfordert Philosophie in Echtzeit.
Eine solche Philosophie erfordert eine grundlegende Neujustierung epistemischer Normen, die Philosophinnen und Philosophen normalerweise vertreten würden, denn der Katastrophenfall ist nicht der Normalfall. Da wir uns nicht in der glücklichen Lage befinden, auf hochwertiges Datenmaterial zurückgreifen zu können, müssen wir stattdessen die besten verfügbaren Informationen verwenden. Unsere Schlussfolgerungen sind also versuchsweise zu formulieren und gegebenenfalls zu revidieren, wenn neue, aussagekräftigere Information und Evidenz verfügbar wird. Philosophie in Echtzeit erfordert ständiges Nachjustieren.
Philosophie in Echtzeit braucht Wissenschaft in Echtzeit
Ein Großteil der besten verfügbaren Informationen stammt auch in der aktuellen Krise aus der Wissenschaft. Allerdings sollten wir – anders als in empirisch gut und ohne Deadline-Druck erforschten Bereichen – nicht erwarten, in einer dynamischen Katastrophenlage mit vollständig gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen arbeiten und uns auf den Goldstandard der begutachteten Fachveröffentlichung stützen zu können. Zum aktuellen Zeitpunkt sind wichtige wissenschaftliche Fragen zwangsläufig offen, relevante Studien befinden sich erst im Stadium der Vorveröffentlichung. Die Wissenschaft von Covid-19, auf die wir uns stützen, wird gerade erst entwickelt. Und auch sie findet in Echtzeit statt.
Natürlich wäre es wünschenswert, erst einmal abzuwarten, wie sich die entsprechende wissenschaftliche Diskussion entwickelt, um sich dann auf einen etablierten Konsens stützen zu können. So ließe sich gewährleisten, dass die philosophische Diskussion der anstehenden Entscheidungsfragen empirisch robust ist. Doch diesen Luxus können wir uns im Katastrophenfall eben nicht leisten. Wichtige Entscheidungsprobleme müssen jetzt – nach bestem verfügbaren Wissen und Gewissen – diskutiert und geklärt werden. Deswegen sind wir, die wir Philosophie in Echtzeit zu praktizieren versuchen, ebenso auf Wissenschaft in Echtzeit angewiesen. Glücklicherweise lassen sich aus der angewandten Epistemologie und Risikoethik Richtlinien bzw. Heuristiken gewinnen, die uns dabei helfen, mit Unsicherheit und Dissens in der wissenschaftlichen Expertendiskussion vernünftig umzugehen.
Die Natur unserer Fragestellung – es geht uns um Entscheidungsprobleme, wie sie im Kontext der drohenden oder laufenden Katastrophe auftreten – gibt die epistemischen Normen vor, die für unsere Untersuchung leitend sind. Die Fragestellung bestimmt, welche Art des Schlussfolgerns zulässig ist und welche nicht. Sie definiert, was als epistemische Tugend gelten kann und was als Fehlleistung der Urteilskraft zu kritisieren ist. Um dies zu konkretisieren, ein Beispiel:
Nehmen wir an, vor uns steht eine Schale mit Münzen. Die eine Hälfte der Münzen ist normal bzw. fair, die andere Hälfte gezinkt (fällt also häufiger auf die Kopfseite). Wir nehmen eine Münze aus dem Haufen heraus, werfen sie einige Male und notieren das Ergebnis. Weil wir in Statistik aufgepasst haben, können wir berechnen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die Münze häufiger auf die Kopfseite fällt und damit gezinkt ist, bei 70 % liegt. Dürfen wir daraus schließen, dass die Münze tatsächlich gezinkt ist?
Unter Normalbedingungen lassen das die gängigen Normen der wissenschaftlichen Praxis nicht zu. Eine Hypothese sollte erst dann angenommen werden, wenn – vereinfacht gesagt – die Daten, die sie stützen, mit einer Wahrscheinlichkeit von 5 % oder weniger durch Zufall erklärt werden können.
Unter Normalbedingungen ergibt dieser institutionalisierte Zweifel Sinn – auch wenn die 5 %-Schwelle natürlich zu einem gewissen Grad beliebig ist. Eine derart strenge Skepsis ist aber nicht in jeder Situation vernünftig. Stellen wir uns vor, ein Milliardär tritt auf den Plan und macht uns das folgende Angebot: Wenn wir zutreffend einschätzen können, ob unsere Münze fair oder gezinkt ist, dann zahlt er uns eine Million. Wie sollten wir uns verhalten?
Sich hier herauszuhalten bzw. agnostisch zu zeigen, wäre hochgradig irrational. Wir wissen ja aus unserer Versuchsreihe, dass die Münze mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 % gezinkt ist. Also sollten wir darauf wetten, obwohl eine Restwahrscheinlichkeit von weit mehr als 5 % besteht, dass wir uns irren, wenn wir auf »gezinkt« tippen. Die erwarteten Konsequenzen dieser Entscheidung sind schließlich viel besser als jene der Alternative. Auch eine Wette auf »fair« wäre besser, als gar nicht zu tippen, um wissenschaftlich agnostisch zu bleiben.3
Dieses Beispiel zeigt, dass bestimmte Grundsätze der wissenschaftlichen Überzeugungsbildung, die unter Normalbedingungen vernünftig sind, mit Prinzipien der praktischen Rationalität in Konflikt geraten können.4 Das gilt umso mehr, wenn philosophische Fragen eine kurze Deadline haben und in Echtzeit beantwortet werden müssen, um etwa Katastrophenszenarien abzuwenden.
Übertragen wir das auf uns: Aus wissenschaftlicher Sicht können wir viele Fragen, die Covid-19 betreffen, noch nicht zufriedenstellend beantworten. Daraus folgt aber nicht, dass wir praktische Fragen noch nicht klar oder dass wir sie deshalb überhaupt nicht beantworten können. Wie der Harvard-Epidemiologe Marc Lipsitch unterstreicht, wissen wir inzwischen für viele praktische Zwecke genug – wir wissen genug, um beherzte Entscheidungen zu treffen. In diesem Essay wollen wir der Frage nachgehen, welche Entscheidungen das gegenwärtig – Anfang April 2020 – sind.
Drei Fragen, die sich aufdrängen
Richten wir unseren Blick auf drei relevante Zeitabschnitte, nämlich: vor, während und nach der Katastrophe. Diese Dreiteilung bestimmt die weitere Struktur unseres Essays bzw. die folgenden drei Teile II, III und IV.
Covid-19: War die Katastrophe vorhersehbar?
Die beste Art, mit Katastrophen umzugehen, besteht darin, sie gar nicht erst eintreten zu lassen. Das erfordert effektive Präventionsarbeit, die Katastrophenrisiken im Vorhinein erkennt und vermeidet. Präventionsmaßnahmen hätten auch im vorliegenden Fall umfassender, früher und schneller ergriffen werden können – und müssen. In Teil II wollen wir das herausarbeiten. Es geht dabei nicht um Schuldzuweisungen, sondern darum, für die risikopolitische Präventionsarbeit der Zukunft wichtige Lehren zu ziehen.
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